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Strafprozessrecht / Verkehrsrecht

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Ungerechtfertigte Parkbusse: Pflicht zur Parteientschädigung auch bei einem Bagatelldelikt

Datum:
15.08.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Strafprozessrecht
Stichworte:
Anwaltsbeizug, Bagatellfall, Entschädigungspflicht
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

StPO 429 Abs. 1 lit. a

Sachverhalt

«A.________ wurde von der Stadtpolizei Zürich am 10. März 2020 wegen Nichtanbringens eines Parkzettels am Fahrzeug verzeigt. Die Stadtpolizei verhängte eine Busse von Fr. 40.–. Noch am selben Tag erhob A.________ schriftlich Einwand gegen die Ordnungsbusse und legte einen gültigen Parkzettel für die fragliche Zeit bei. Am 27. März 2020 erwiderte die Stadtpolizei, sie halte an der Ordnungsbusse fest. A.________ wurde am 26. Mai, am 10. Juli und am 7. September 2020 bezüglich des ausstehenden Betrages gemahnt. Am 28. September 2020 erhob A.________ erneut schriftlich Einwand gegen die Ordnungsbusse und legte wiederum den gültigen Parkzettel bei.

Mit Strafbefehl vom 10. Dezember 2020 bestrafte das Stadtrichteramt Zürich A.________ wegen Nichtanbringens eines Parkzettels am Fahrzeug mit einer Busse in Höhe von Fr. 40.– und auferlegte ihm Kosten in Höhe von Fr. 90.–. Nach Zustellung des Strafbefehls am 15. Februar 2021 mandatierte A.________ einen Rechtsanwalt. Vertreten durch diesen erhob er am 25. Februar 2021 Einsprache gegen den Strafbefehl.

Am 7. September 2021 verfügte das Stadtrichteramt die Einstellung der Strafuntersuchung. Die Kosten wurden auf die Amtskasse genommen, eine Entschädigung wurde nicht ausgerichtet.»

Prozess-History

  • Obergericht des Kantons Zürich

    • A.________ erhob Beschwerde gegen die Entschädigungsfolgen der Einstellungsverfügung beim Obergericht des Kantons Zürich (OGZ).
    • Das OGZ wies die Beschwerde mit Verfügung vom 10. November 2021 ab.
  • Bundesgericht

    • A.________ führte in der Folge Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht (BGer).
      • Dabei beantragte er die Aufhebung der Verfügung des OGZ.
        • Ihm sei eine Entschädigung in Höhe der eingereichten Honorarnote von Fr. 1’652.85 auszurichten und es seien die Kostenfolgen des Verfahrens vor der Vorinstanz neu zu regeln.
      • Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
    • Das OGZ verzichtete auf eine Vernehmlassung.
    • Das Stadtrichteramt Zürich beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen

Das BGer erwog zusammengefasst folgendes:

  • Grundsatz: Anspruch auf Aufwendungsersatz

    • Wird der Beschuldigte
      • ganz oder teilweise freigesprochen oder
      • wird das Verfahren gegen ihn eingestellt,
        • so hat er Anspruch auf Entschädigung seiner Aufwendungen für die angemessene Ausübung seiner Verfahrensrechte (StPO 429 Abs. 1 lit. a).
  • Gegenstand des Kostenersatzes

    • Zu den Aufwendungen im Sinne der vorgenannten Gesetzesbestimmung zählen
      • in erster Linie
        • die Kosten der frei gewählten Verteidigung aus den nachgenannten Gründen gerechtfertigt sind:
          • tatsächliche oder rechtliche Komplexität des Falls und
          • Höhe des geltend gemachten Aufwands.
      • Vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1329 Ziff. 2.10.3.1).
  • Verteidiger-Beizug

    • Allgemeines
      • Der Beizug eines Verteidigers kann sich als angemessen erweisen,
        • selbst wenn es nicht als geradezu geboten erscheint.
    • Ungerechtfertigte Beschuldigung bzw. Verfahrenseinbeziehung
      • Zu beachten war hier, dass es im Rahmen von StPO 429 Abs. 1 lit. a um die Verteidigung ging, und zwar
        • um einen vom Staat zu Unrecht Beschuldigten und
        • um eine gegen ihren Willen in ein Strafverfahren einbezogene Person.
    • Abwehr als Herausforderung für betroffene Laien
      • Das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht sind ferner komplex und bewirken für Personen,
        • welche das Prozessieren nicht gewohnt sind,
          • eine (starke) Belastung und
          • eine grosse Herausforderung.
    • Eigenverteidigung als Handicap
      • Wer sich selbst verteidigt, dürfte grundsätzlich schlechter gestellt sein, und zwar grundsätzlich unabhängig von der Schwere des Deliktsvorwurfs, und zwar auch bei Vorliegen
        • blosser Übertretungen.
      • Deshalb darf nicht generell davon ausgegangen werden,
        • dass der Beschuldigte seine Verteidigungskosten als Ausfluss einer Art von Sozialpflichtigkeit selbst zu tragen hat.
    • Kriterien für den Verteidiger-Beizug
      • Beim Entscheid über die Angemessenheit des Beizugs eines Verteidigers sind zu berücksichtigen:
        • Die Schwere des Tatvorwurfs
        • die tatsächliche und rechtliche Komplexität des Falles
        • die Dauer des Verfahrens
        • die Verfahrensauswirkungen auf die persönlichen und beruflichen Verhältnisse des Beschuldigten.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht auch bei blossen Übertretungen ein Anspruch auf Entschädigung für Anwaltskosten, wenn

        • der Rechtsanwalt erst nach Ergehen eines Strafbefehls beigezogen wurde und
        • die Übertretung von der Staatsanwaltschaft mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt wurde.
      • Massgebend für die Beurteilung der Angemessenheit des Beizugs eines Verteidigers sind
        • die Umstände, welche im Zeitpunkt der Mandatierung bekannt waren
        • die bisherige Verfahrensdauer
        • die Hartnäckigkeit der Weiterverfolgung durch die Staatsanwaltschaft.
  • Überprüfung der Anwaltsbeanspruchung durch das BGer

    • Grundsatz
      • Ob die Beanspruchung eines Anwalts
        • aus einer angemessenen Ausübung der Verfahrensrechte hervorging und
        • ob demzufolge dem Beschuldigten für die Verteidigungskosten eine Entschädigung gemäss StPO 429 Abs. 1 lit. a (i.V.m. StPO 436 Abs. 1) zuzusprechen war,
        • ist eine Frage des Bundesrechts,
          • welche das BGer frei prüfen kann.
    • Zurückhaltung
      • Das BGer auferlegt sich indessen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der vorinstanzlichen Einschätzung, insbesondere hinsichtlich der Frage, welcher Aufwand der Verteidigung im konkreten Fall noch als angemessen bezeichnet werden kann.

Dem Beschwerdeführer wurde im Strafbefehl eine Übertretung im Bagatellbereich vorgeworfen:

  • Keine Komplexität

    • Der Fall war weder rechtlich noch tatsächlich besonders komplex.
    • Der Beschwerdeführer hat vor Beizug eines Rechtsvertreters bereits zweimal einen schriftlichen Einwand mit Beilage gegen die verhängte Busse verfasst.
  • Erste Laieneingabe

    • Seine erste Eingabe reichte er am Tag der Ausstellung der Busse auf dem vorgesehenen Weg ein.
    • Er bestritt den Vorwurf, beschrieb insbesondere, wo er den Parkzettel hingelegt habe, und legte dar, dass es sehr stark geregnet habe am fraglichen Tag, was vielleicht das Übersehen des Parkzettels erklären möge.
      • Zum Beweis seiner Unschuld legte er den unbestrittenermassen vor der Kontrolle gelösten, gültigen Parkzettel bei.
  • Mitteilung der Einleitung des Strafverfahrens

    • Dem Gebüssten wurde mitgeteilt, dass
      • die Polizei an der Busse festhalte und
      • das kostenpflichtige ordentliche Strafverfahren eingeleitet werde, sollte er diese nicht bezahlen.
  • Zweite Laieneingabe

    • Seine zweite schriftliche Eingabe reichte der Beschwerdeführer rund ein halbes Jahr später nach mehreren Mahnungen ein.
      • Diese formulierte er etwas anders als seinen ersten Einwand, inhaltlich aber gleichbleibend.
        • Wiederum legte er als Beweis den gültigen Parkzettel bei.
  • Strafbefehl

    • Rund elf Monate nach Ausstellung der Busse und seiner ersten Laien-Einsprache erging
      • der Strafbefehl, mittels welchem er verurteilt wurde
        • zu einer Busse von Fr. 40.— und
        • zu Verfahrenskosten von Fr. 90.–.
  • Anwaltsbeizug

    • Nach der Zustellung des Strafbefehls zog er einen Rechtsvertreter bei.
  • Einstellung des Strafverfahrens

    • Aufgrund der vom Anwalt ausgearbeiteten Einsprache erfolgte die Einstellung des Strafverfahrens.

Im vorliegenden Fall erwies sich der Beizug eines Rechtsvertreters trotz des Bagatellcharakters der Übertretung als angemessen:

  • Annahme des Gebüssten, seine Laienfähigkeiten seien ausgeschöpft

    • Es war nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer davon ausging,
      • sein Laien-Argumentarium sei ausgeschöpft und
      • anscheinend nicht ausreichend, um die Behörden von seiner Unschuld zu überzeugen.
  • Missachtung durch die VI, dass BF die Bestrafung mehrfach vergeblich versuchte abzuwenden

    • Die vorinstanzliche Begründung verkennt, dass der Beschwerdeführer vor dem Beizug des Rechtsvertreters seine Argumentation bereits mehrfach vergeblich in das Strafverfahren eingebracht hatte.
    • Der Beschwerdeführer hat zweimal seine Position in einer gut verständlichen, jeweils unterschiedlich formulierten Laienbegründung dargelegt und das zentrale Beweismittel für seine Unschuld seinen Eingaben beigelegt.
    • Gleichwohl wurde das Verfahren durch die Behörden weiterverfolgt.
  • BF liess neuer Verfahrensstufe (Strafbefehl) die neue Abwehrstufe (Anwaltsbeizug) folgen

    • Nachdem das Verfahren mit dem Strafbefehl durch die Behörden auf eine neue Stufe gehoben wurde, ist nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer in dieser Situation davon ausging, anwaltliche Hilfe zu benötigen, und ebenfalls eine neue Stufe wählte, indem er seine mittlerweile dritte Eingabe mit Hilfe eines Rechtsvertreters einreichte.
    • Belastend für den Beschwerdeführer war, dass dem Strafverfahren ein Nachbarschaftsstreit zugrunde lag.
  • Anwaltseingabe

    • Zu konstatieren war, dass die Eingabe des Rechtsvertreters
      • als professionell ausgearbeitete Einsprache ein juristisches Argumentarium etwa zur Unschuldsvermutung enthält und
      • sich damit anders präsentierte als die Laien-Eingaben des Beschwerdeführers.
    • Im Kerngehalt unterschied sich die Argumentation des Anwalts inhaltlich nicht von den Laienbegründungen des Beschwerdeführers.
  • Ergebnis bestätigt Notwendigkeit des Anwaltsbeizugs

    • Es zeigte sich, dass der Beschwerdeführer tatsächlich davon ausgehen durfte, seine Möglichkeiten als Laie seien ausgeschöpft.
    • Dies spricht für einen Entschädigungsanspruch.

Fazit

Die Rüge des Beschwerdeführers erwies sich als begründet:

  • Der angefochtene Entscheid war aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
  • Die Höhe der auszurichtenden Entschädigung ist durch die Vorinstanz festzulegen.
    • Die Vorinstanz ist befugt, die Angemessenheit der geltend gemachten Aufwendungen und Stundenansätze im Rahmen von StPO 429 Abs. 1 lit. a frei zu überprüfen:
      • Dabei darf sie laut BGer insbesondere auch berücksichtigen:
        • die sehr geringe Komplexität und
        • die Bedeutung des Falls im absoluten Bagatellbereich.

Aufgrund der Erwägungen war die Beschwerde gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden konnte:

  • Es waren keine Gerichtskosten zu erheben (BBG 66 Abs. 4).
  • Der Kanton Zürich hatte den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (BBG 68 Abs. 1 und 2).

Entscheid

  1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 10. November 2021 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
  3. Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1’500.– auszurichten.
  4. (Mitteilungen)

BGer 6B_1472/2021 vom 30.05.2022 | bger.ch

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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