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Zivilprozessrecht

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Weitschweifige Rechtsschrift und unangemessene gerichtliche Kürzungsvorgabe

Datum:
11.10.2017
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Zivilprozessrecht
Stichworte:
Zivilprozess
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Überspitzter Formalismus mit Rechtsverweigerungsfolge (BV 29 Abs. 1)

Anfechtungsgegenstand bildete zur Hauptsache ein verfahrensabschliessender Nichteintretensentscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich in einer Teilklage der Sammelstiftung A. gegen B., C., D., E. und die F. AG unter solidarer Haftbarkeit über CHF 12‘569‘255.00 zuzüglich Zins zu 5 % seit 31.12.2009, zur Verantwortlichkeitsbeurteilung nach BVG 52 Abs. 1.

Nach Ansicht von Vorinstanz und Bundesgericht handelte es sich um einen «relativ überschaubaren Sachverhalt». Dennoch enthielt die Klageschrift rund 420 Seiten, d.h.:

  • knapp 300 Seiten Ausführungen zum «Sachverhalt»
  • beinahe 30 Seiten zum «Rechtlichen» im Sinne allgemeiner Erörterungen zu den entsprechenden Haftungsvoraussetzungen
  • rund 80 Seiten zur «Subsumtion»
  • drei Seiten Zusammenfassung
  • diverse Anhänge (sechs Ordner)
  • Beweisunterlagen (neun Ordner)
  • zahlreiche Wiederholungen, Querverweise sowie detaillierte Erläuterungen zu Geschehnissen und Personen, welche sich später teilweise als nicht mehr entscheidrelevant erweisen.

Der Schriftsatz mutete deshalb mit Blick auf das grundsätzlich eingrenzbare Prozessthema überdimensioniert an, weshalb es nachvollziehbar sei, dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin eine Frist zur Verbesserung gesetzt habe.

Es galt für das Bundesgericht nun zu prüfen, ob die in den gerichtlichen Beschlüssen vom 15.06.2015 und 19.10.2015 enthaltenen («Verbesserungs») Vorgaben im Sinne von «maximal 50 Seiten (übliche Schriftgrösse und üblicher Zeilenabstand; genaue Bezeichnung der Beweismittel) » bezogen auf den vorliegenden Fall als überspitzt formalistisch und damit – in Verletzung von BV 29 Abs. 1 – rechtsverweigernd einzustufen sei.

Für die Umfangbegrenzung des Schriftsatzes waren folgende Punkte zu berücksichtigen:

  • Höhe der eingeklagten Forderung
  • notwendige Beurteilung
    • von unterschiedlichen persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen
    • von mehreren finanziellen Transaktionen etc.
  • Anzahl der von der Beschwerdeführerin ins Recht gefassten Beklagten mit
    • je unterschiedlichen Funktionen (Stiftungsratspräsidentin, Stiftungsräte, Mitglied der Anlagekommission, Revisionsstelle)
    • der Pflicht, deren Pflichtverletzungen (einschliesslich Kausalverlauf, Auswirkung auf den Schaden, Verschulden) einzeln aufzuzeigen
  • zurückgedrängtem Untersuchungsgrundsatz im Klageverfahren nach BVG 73 Abs. 2 i.V.m. 52
    • Anwaltliche Vertretung der Beklagten
    • Substanziierungspflicht, wonach die wesentlichen Tatsachenbehauptungen und -bestreitungen in den Rechtsschriften enthalten sein müssen
    • Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
  • Vorinstanz als einzige gerichtliche Instanz
  • Sachverhaltsverbindlichkeit für das Bundesgericht.

Die klagende Partei war somit darauf angewiesen, ihr Anliegen vor dem vorgelagerten Gericht zwar in gebotener Kürze, aber doch in den Umständen des Einzelfalls ausreichend Rechnung tragender Weise vortragen zu können.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände gelangte das Bundesgericht zur Auffassung, dass eine auf maximal 50 Seiten, d.h. auf 12 % des ursprünglichen Klageschriftenumfangs begrenzte Verbesserungsvorgabe der Vorinstanz als zu eng gefasst zu werten sei. Damit werde nicht die Durchsetzung des materiellen Rechts gewährleistet, sondern im Gegenteil der Beschwerdeführerin in unzulässiger – überspitzt formalistischer – Weise der Rechtsweg versperrt.

Das Bundesgericht hob deshalb die Beschlüsse der Verbesserungsvorgabe auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese auf die Klage eintrete und in der Sache entscheide.

Quelle

BGE 9C_440/2017 vom 19.07.2017

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