Nach dem Wortlaut der EU-Fluggastrechte-Verordnung 261/2004, die auch in der Schweiz zur Anwendung gelangt, steht betroffenen Flugpassagieren nur nach Annullierungen eine Ausgleichszahlung (250 bis 600 Euro) zu. Mit dem sogenannten Sturgeon-Urteil hat der EuGH 2009 entschieden, dass diese Ausgleichszahlungen auf Ankunftsverspätungen von mehr als drei Stunden ausgeweitet werden. Der Gedanke hinter der Ausdehnung der Norm über den eigentlichen Wortlaut: Wird ein Flug eines Passagiers annulliert und erhält dieser beispielsweise fünf Stunden später einen Ersatzflug, so kommt das für ihn nahezu auf dasselbe heraus, wie wenn sich sein ursprünglicher Flug direkt um fünf Stunden verspätet hätte. Während EU-Gerichte also die Rechte von Flugpassagieren stärken, beschäftigen sich Schweizer Gerichte dagegen vornehmlich mit dem Gegenteil.
Das Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt wollte mit Entscheid vom 15. Mai 2012 die Fluggastrechte für Strecken zwischen der Schweiz und Nicht-EU-Ländern gar ganz aufheben, wobei es sich als Quelle primär auf einen Fachartikel einer damaligen Swiss-Mitarbeiterin stützte. Die Reaktion auf diese Tatsache und den Entscheid war unmissverständlich. Der Tages Anzeiger schrieb von einem Urteil mit einem „Makel“ und der St. Galler Rechtsprofessor Vito Roberto davon, dass das Gericht den Anhang der Verordnung nicht genau gelesen habe. Schliesslich intervenierte gar das BAZL und stellte die Situation mit einem Rundschreiben klar: Die Fluggastrechte gelten auch auf Flügen zwischen der Schweiz und Nicht-EU-Staaten.
Anfang letzten Jahres folgte der nächste Schlag gegen die Rechte von Schweizer Flugpassagieren. Das Bezirksgericht Bülach ist in einem Urteil gezielt von der Sturgeon-Doktrin des EuGHs abgewichen. EuGH-Urteile sind in der Schweiz freilich nicht verbindlich. Da es sich bei der Fluggastrechte-Verordnung um einen Rechtsakt handelt, den die Schweiz 1 zu 1 übernommen hat, soll gemäss Bundesgericht jedoch nur dann von der EuGH-Rechtsprechung abgewichen werden, wenn „triftige Gründe“ hierfür vorliegen. Stattdessen nahm das Bezirksgericht Bülach eine eigenständige grammatikalische, historische und systematische Auslegung der Fluggastrechte-Verordnung vor. Als Folge davon kam es zum Schluss, dass die Sturgeon-Doktrin hierzulande keine Anwendung fände.
Beim Flugverkehr, der freilich sehr stark international geprägt ist und bei dem sämtliche EU-Rechtsakte übernommen werden (acquis communautaire), ist ein solches Abweichen besonders fragwürdig. Das allgemeine Ziel der EU-Fluggastrechte-Verordnung ist unter anderem die Harmonisierung der Bedingungen in einem liberalisierten Markt. In der Schweiz herrscht nun aber eine Rechtsunsicherheit. Da Entscheide im Bereich der Fluggastrechte in der Schweiz Seltenheitswert haben, wäre ein Bekenntnis eines Schweizer Gerichtes zur europäischen Praxis umso bedeutender. Denn solange dies nicht geschieht, wissen die Fluggesellschaften die verzwickte rechtliche Lage zu ihren Gunsten auszunutzen und verweigern tagtäglich möglicherweise berechtigte Ausgleichszahlungen.
Spätestens mit der geplanten Revision der Fluggastrechte-Verordnung dürfte damit allerdings Schluss sein. Danach werden aller Voraussicht nach auch Verspätungen geregelt sein. Die Rechte von Schweizer Passagieren könnten als Folge davon nicht mehr durch konsumentenunfreundliches Schweizer Richterrecht gebremst werden.
Simon Sommer & Edoardo Köppel
Fluggastrechtsexperten bei cancelled.ch
Quellen
- Bezirksgericht Bülach, Urteil vom 2.2.2016 (FV150044-C/U)
- Bundesgericht zu „triftige Gründe“, vgl. BGE 140 II 112 E. 3.2 S. 117, BGE 136 II 364 E. 5.3 S. 372; BGE 139 II 393 E. 4.1.1 S. 397 f.; BGE 136 II 5 E. 3.4 S. 12 f., BGE 136 II 65 E. 3.1 S. 70 f.
- Gerichtshofs der Europäischen Union, Urteil vom 19. 11.2009 in den verbundenen Rechtssachen C-402/07 und C-432/07, Sturgeon und Böck, betreffend die Fluggastrechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004
- Dettling-Ott Regula, Das bilaterale Luftverkehrsabkommen der Schweiz und der EG, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals, Bilaterale Verträge I & II Schweiz-EU, Zürich 2007
- Tages Anzeiger, Müller Thomas, Artikel vom 14.11.2016: „Flugpassagierin verlangte 600 Euro Entschädigung“
- Zivilgericht Basel-Stadt, Urteil der Zivilgerichtspräsidentin vom 15.5.2012 (V.2012.213)
Edoardo Köppel
Edoardo Köppel ist Unternehmensinhaber von Köppel-Legal AG sowie Geschäftsführer und Mitgründer des jungen legal-tech Startups Anemis GmbH, welches das erste Fluggastrechte-Portal cancelled.ch betreibt. Er berät seine Klienten bevorzugt im Steuer- sowie Fluggastrecht. Zudem hilft er Gründer beim Start in die Selbständigkeit. Edoardo Köppel hat Rechtswissenschaften an der Universität Zürich studiert und bereits als Student sein erstes eigenes Unternehmen gegründet.
Simon Sommer
Simon Sommer ist Mitgründer des jungen legal-tech Startups Anemis GmbH, welches das erste Fluggastrechte-Portal cancelled.ch betreibt. Er bearbeitet dort die Fälle, betreibt juristische Recherche und entwickelt mit dem IT-Team die rechtlichen Systeme weiter. In der Anemis GmbH ist er zudem mitverantwortlich für zahlreiche weitere Legal Tech-Projekte. Simon Sommer hat Rechtswissenschaften an den Universitäten Zürich und Bern studiert.