BV 114 Abs. 5
Bei der Berechnung der Mindestversicherungsdauer für die Ausrichtung von Überbrückungsleistungen wird die in einem EU-Mitgliedstaat geleistete Beitragszeit nicht angerechnet:
- Es handelt sich um keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne des europäischen Koordinationsrechts.
Das Bundesgericht (BGer)
- bestätigt den Entscheid des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden, der die im Ausland geleistete Beitragszeit nicht berücksichtigt und
- weist die von der betroffenen Person dagegen erhobene Beschwerde ab.
Sachverhalt
Ein 1959 geborener und seit Januar 2008 in der Schweiz wohnhafter deutscher Staatsangehöriger meldete sich per 01.07.2021 von der Arbeitsvermittlung beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum Appenzell Ausserrhoden ab:
- Er beantragte bei der Ausgleichskasse Appenzell Ausserrhoden auf diesen Zeitpunkt hin die Ausrichtung von Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose.
Prozess-History
- Ausgleichskasse
- Die Ausgleichskasse verneinte einen Anspruch des Betroffenen auf Überbrückungsleistungen, weil die Mindestversicherungsdauer von 20 Jahren in der Schweiz nicht erreicht sei.
- Obergericht Appenzell Ausserrhoden
- Die vom Betroffenen dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht Appenzell Ausserrhoden im Oktober 2022 ab,
- Beschwerde ans Bundesgericht
- Der Betroffene reichte Beschwerde beim Bundesgericht ein.
Erwägungen des Bundesgerichts
Streitig ist die Frage, ob die im Ausland geleisteten Beitragszeiten für die Berechnung der Mindestversicherungsdauer anzurechnen sind oder nicht.
- Anrechnungspflicht
-
- Die in einem EU-Mitgliedstaat geleisteten Beitragszeiten sind nicht anzurechnen, sofern die Überbrückungsleistungen als Vorruhestandsleistungen im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.1; VO Nr. 883/2004) qualifiziert werden können.
- Überbrückungsleistungen als Leistungen bei Arbeitslosigkeit?
- Werden hingegen Überbrückungsleistungen als Leistungen bei Arbeitslosigkeit betrachtet, muss angerechnet werden.
- Das BGer ist aber zum Schluss gelangt, dass Überbrückungsleistungen keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit sind.
- Überbrückungsleistungen = Leistungen mit Fürsorgecharakter
- Überbrückungsleistungen sind Leistungen mit Fürsorgecharakter, die ihre Verfassungsgrundlage in BV 114 Abs. 5 (Arbeitslosenfürsorge) haben:
- Deckungszeitraum: bis zum Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters
- Reduktion: Armutsrisiko vor dem Rentenalter.
- Erfasst sind somit jene Fälle,
- in denen die Arbeitsförderung nicht mehr greift;
- in denen die Rentenversicherung aufgrund des Alters noch nicht greift.
- Überbrückungsleistungen sind Leistungen mit Fürsorgecharakter, die ihre Verfassungsgrundlage in BV 114 Abs. 5 (Arbeitslosenfürsorge) haben:
- ÜLG bewusst ohne Berücksichtigung des Systems der Arbeitslosenversicherung
- Mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG) hat der Gesetzgeber überdies bewusst davon abgesehen, die Problematik im System der Arbeitslosenversicherung zu regeln.
- Unterschiede Arbeitslosenversicherung + Finanzierung der Überbrückungsleistungen
- Wesentliche Unterschiede zur Arbeitslosenversicherung bestehen hinsichtlich:
- der Anspruchsvoraussetzungen;
- der Berechnungsgrundlagen;
- der Finanzierung der Überbrückungsleistungen.
- Wesentliche Unterschiede zur Arbeitslosenversicherung bestehen hinsichtlich:
- Gesamtbetrachtung
- Bei gesamthafter Betrachtung und auch unter Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH bestehen somit mehrere bedeutsame Unterschiede,
- welche es erlauben,
- Überbrückungsleistungen als Vorruhestandsleistungen gemäss VO Nr. 883/2004 zu qualifizieren.
- welche es erlauben,
- Bei gesamthafter Betrachtung und auch unter Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH bestehen somit mehrere bedeutsame Unterschiede,
- Keine Anrechnungspflicht bei der Berechnung der Mindestvertragsdauer
- Die im Ausland geleisteten Beitragszeiten sind für die Berechnung der Mindestversicherungsdauer nicht anzurechnen.
- Keine Völkerrechtsverletzung
- Somit verletzt das angefochtene Urteil kein Völkerrecht.
Die Beschwerde war daher laut BGer abzuweisen.
Entscheid des Bundesgerichts
- Abweisung der Beschwerde.
BGer 8C_670/2022 vom 25.05.2023
Art. 114 Arbeitslosenversicherung
1 Der Bund erlässt Vorschriften über die Arbeitslosenversicherung.
2 Er beachtet dabei folgende Grundsätze:
- Die Versicherung gewährt angemessenen Erwerbsersatz und unterstützt
Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. - Der Beitritt ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer obligatorisch; das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen.
- Selbstständigerwerbende können sich freiwillig versichern.
3 Die Versicherung wird durch die Beiträge der Versicherten finanziert, wobei die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Hälfte der Beiträge bezahlen.
4 Bund und Kantone erbringen bei ausserordentlichen Verhältnissen finanzielle Leistungen.
5 Der Bund kann Vorschriften über die Arbeitslosenfürsorge erlassen.
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam