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Sozialversicherungsrecht / Strafrecht

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Unrechtmässiger Bezug von Sozialleistungen oder Sozialhilfe: Kriterien für leichten Fall definiert

Datum:
01.06.2023
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht, Strafrecht
Thema:
Sozialleistungen bzw. Sozialhilfe
Stichworte:
Sozialhilfe, Sozialleistungen, Unrechtmässiger Bezug
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

StGB 148a Abs. 1 + 2

Das Bundesgericht (BGer) hat die Kriterien zur Beurteilung festgelegt, ob bei einem unrechtmässigen Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe von einem leichten Fall auszugehen ist, der keine Landesverweisung rechtfertigt:

  • Bei einem Deliktsbetrag von weniger als CHF 3’000 liegt immer ein leichter Fall vor.
  • Bei einem Deliktsbetrag von mehr als CHF 36’000 scheidet ein leichter Fall in der Regel aus.
  • Im Zwischenbereich ist im individuell-konkreten Einzelfall zu prüfen, ob noch ein leichter Fall vorliegt.
«Ein ausländischer Sozialhilfeempfänger hatte 18’400 Franken Freizügigkeitsguthaben bezogen, ohne dies den Sozialen Diensten zu melden. Auf deren Aufforderung hin legte er später Belege zur Auszahlung der Freizügigkeitsleistung vor. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn 2019 wegen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe (Artikel 148a Absatz 1 Strafgesetzbuch, StGB) zu einer Geldstrafe und verwies ihn für fünf Jahre des Landes. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte den Schuldspruch und die Landesverweisung. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Betroffenen gut. Es kommt zum Schluss, dass ein leichter Fall vorliegt, womit eine Landesverweisung nicht in Betracht fällt. Das Gesetz selber regelt nicht, wann es sich nur um einen leichten Fall (Artikel 148a Absatz 2 StGB) handelt. Im Interesse der Rechtssicherheit ist es grundsätzlich sinnvoll, gewisse zahlenmässige Grenzen festzulegen. Gleichzeitig gilt es, den Vorgaben der Botschaft des Bundesrates gerecht zu werden und weitere verschuldensrelevante Umstände in die Beurteilung miteinzubeziehen. Unter Berücksichtigung der Botschaft und von Lehrmeinungen legt das Bundesgericht einen Deliktsbetrag von 3000 Franken fest, bei dessen Unterschreitung immer von einem leichten Fall auszugehen ist. Liegt der Deliktsbetrag über 36’000 Franken, handelt es sich in der Regel nicht mehr um einen leichten Fall. Im Zwischenbereich ist eine vertiefte Prüfung der Umstände des konkreten Falles erforderlich. Das Verschulden kann leichter ausfallen, wenn die Dauer des unrechtmässigen Leistungsbezugs kurz war, die Täterschaft nur geringe kriminelle Energie offenbart hat oder wenn die Beweggründe und Ziele nachvollziehbar sind. Anzumerken ist, dass bei einem arglistigen Vorgehen der Täterschaft unabhängig vom Deliktsbetrag geprüft werden muss, ob der Tatbestand des Betrugs erfüllt ist und deshalb eine Landesverweisung auszusprechen ist. Im konkreten Fall hat der Beschwerdeführer nur einen einmaligen Zahlungseingang verschwiegen; den Sozialen Diensten war das Freizügigkeitsguthaben bekannt. Er musste damit rechnen, dass die Auszahlung entdeckt und thematisiert werden würde. Er legte entsprechende Belege auf Nachfrage hin freiwillig offen. Insgesamt ist die aufgewendete kriminelle Energie als verhältnismässig gering einzustufen. Im Ergebnis liegt damit ein leichter Fall vor, womit sich eine Prüfung der Landesverweisung erübrigt. Die Vorinstanz wird den Beschwerdeführer wegen einem leichten Fall schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen haben.»Quelle: Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 01.06.2023

BGer 6B_1108/2021 vom 27.04.2023

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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