Ein Überblick
Rechtsanwalt und Inhaber des zürch. Notar-, Grundbuch- und Konkursverwalter-Patentes
Einleitung
In den Medien und im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) ist immer wieder von Gesellschaften mit Organisationsmängeln zu lesen.
Was steckt hinter der Begrifflichkeit «Organisationsmangel»? Welche Optionen haben Aktionäre oder Gläubiger, wenn keine Unternehmensvertreter mehr erreichbar sind? Welche Abläufe hat der Gesetzgeber vorgesehen und welches ist die Ultima ratio für die Gesellschaft?
Agenda
- Einleitung
- Definition
- Grundlagen
- Verbreitung
- Handlungsfähigkeit der Gesellschaft
- Organisationsmängel
- Externe Initiative
- Richterliche Massnahmen
- Organ-Ersatz oder Sachwalter-Ernennung
- Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs>
- Überschuldungsfeststellung
- Keine Strafbarkeit wegen Misswirtschaft oder unterlassener Buchführung
- Fazit
- Weiterführende Informationen
Definition
Von einem Organisationsmangel wird gesprochen, wenn eines der gesetzlichen Organe fehlt oder nicht richtig zusammengesetzt ist.
Grundlagen
- ZGB 54
- OR 731b
- HRegV 152 ff.
Nach mehreren Gesetzesrevisionen zu dieser Querschnittmaterie besteht mit OR 731b eine Art rechtsformübergreifende Gesetzesnorm zur Abwicklung von Organisationsmängeln.
Verbreitung
Die Eröffnung von sog. «Organisationsmangel-Konkursverfahren» aufgrund von Mängeln in der Organisation belegt in den amtlichen Konkursstatistiken der Schweiz einen grossen Anteil:
2020 waren laut Angaben des Bundesamtes für Statistik (BFS) von insgesamt 14’770 eröffneten Konkursverfahren
- 1’858 «organisationsmangel-bedingte Liquidationen nach den Vorschriften über den Konkurs».
Hinter dieser statistischen Zahl der «Organisationsmangel-Liquidationen» verbergen sich oftmals wirtschaftlich inexistente Unternehmen, welche nach stiller Liquidation zum leeren Gesellschaftsmantel mutierten und deren Beendigung in formaler Hinsicht durch die Aktionäre ohne kostspielige Unternehmensliquidation via Konkursamt der Handelsregisterlöschung zugeführt werden.
Handlungsfähigkeit der Gesellschaft
Gemäss ZGB 54 ist eine Gesellschaft nur dann handlungsfähig, wenn ihre Organe gesetzes- und statutenkonform besetzt sind.
Organisationsmangel
Ein Organisationsmangel liegt grundsätzlich vor, wenn entweder eines der gesetzlichen Organe fehlt oder dieses nicht richtig zusammengesetzt ist.
Als Organisationsmangel gelten insbesondere:
- Fehlen eines vorgeschriebenen Organs der Gesellschaft (zB kein Verwaltungsrat)
- Unrichtige Zusammensetzung des vorgeschriebenen Organs der Gesellschaft
- Nicht- oder nicht richtige Führung des Aktienbuchs oder des Verzeichnisses über die ihr gemeldeten wirtschaftlich berechtigten Personen.
- Ausgabe von Inhaberaktien, ohne dass die Beteiligungspapiere an einer Börse kotiert oder die Inhaberaktien als Bucheffekten ausgestaltet sind.
- Einbüssung des Rechtsdomizils am Sitz der Gesellschaft.
Externe Initiative
Liegt bei einer Gesellschaft ein Organisationmangel vor, können beim Richter die Vornahme der erforderlichen Massnahmen verlangt werden und zwar durch:
- die Aktionäre;
- die Gläubiger;
- denHandelsregisterführer.
Ob und inwieweit sich eine sog. «Organisationsklage» der Gläubiger und / oder Aktionäre rechtfertigt, ist im konkreten Einzelfall zu prüfen.
Richterliche Massnahmen
Der Richter hat folgende Möglichkeiten:
- Fristansetzung zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes an die Gesellschaft unter Androhung ihrer Auflösung;
- Ernennung des fehlenden Organs oder Ernennung eines Sachwalters;
- Anordnung der Auflösung der Gesellschaft und Anordnung ihrer Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs.
Der Richter hat dabei diejenige Massnahme zu wählen, die am wenigsten in die Gesellschaft eingreift.
Der Leitentscheid BGE 138 III 294 gibt in Erw. 3.1.4 dem Richter eine Guideline:
- „Der Richter soll die drastische Massnahme der Auflösung gemäss Ziffer 3 erst anordnen, wenn die milderen Massnahmen gemäss Ziffer 1 und Ziffer 2 nicht genügen oder erfolglos geblieben sind. Es gilt mithin wie im Verfahren nach Art. 736 Ziff. 4 OR das Verhältnismässigkeitsprinzip. Die Auflösung nach Art. 731b Abs. 1 Ziff. 3 OR stellt eine ultima ratio dar, also das letztmögliche Mittel, das erst zur Anwendung gelangt, wenn sich mildere Mittel nicht als sachgerecht bzw. zielführend erweisen.“
Organ-Ersatz oder Sachwalter-Ernennung
Ernennt das Gericht das fehlende Organ oder einen Sachwalter, so bestimmt es folgendes:
- die Dauer, für welche die Ernennung gültig ist;
- die Verpflichtung der Gesellschaft
- zur Kostentragung;
- zur Leistung eines Kostenvorschusses an die ernannten Personen.
Sofern und soweit ein wichtiger Grund vorliegt, kann die Gesellschaft vom Gericht die Abberufung von Personen verlangen, die dieses eingesetzt hat.
Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs
Die Auflösung der Gesellschaft aufgrund von Mängeln in der Organisation (OR 731b) ist kein Konkurs im üblichen Sinne, der durch ein Überschuldungsproblem verursacht wurde.
Dieser Sonderfall des «Konkurses» tritt – wie vorstehend ausgeführt – dann ein, wenn eines der gesetzlichen Organe fehlt oder diese nicht richtig zusammengesetzt sind.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht liegt nach einer richterlichen Auflösung und Liquidationsanordnung
- nicht ein Konkursverfahren im Sinne des SchKG vor,
- sondern eine «Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs».
Zu Beginn des Verfahrens weicht die «Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs» wesentlich von den «SchKG-Konkurseröffnungstatbeständen» ab. Der gesellschaftsrechtlich motivierte Verfahrensbeginn im Falle von Art. 731b Abs. 1bis Ziff. 3 OR hat auch Folgen im Rahmen der Verfahrens-Abwicklung:
- Die allgemeine Annahme, wonach das «Liquidationsverfahren infolge eines Organisationsmangels vollständig analog eines Konkursverfahrens gemäss SchKG abgewickelt wird, trifft nicht in allen Teilen zu (vgl. auch OR 731b Abs. 4).
- In der Praxis wird nur in den seltensten Fällen der fehlenden Überschuldung ein Unterschied zum klassischen Konkursverfahren gemacht.
Die Unterscheidung in der Rechtsnatur der Verfahrenseröffnung und Führung des Verfahrens als «Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs» hat Auswirkungen, und zwar:
- auf bestimmte Verfahrensregeln (siehe nachfolgend: «Überschuldungsanfechtung»)
- auf die Strafbarkeit der Organe (siehe nachfolgend: Keine Strafbarkeit wegen Misswirtschaft oder unterlassener Buchführung).
Überschuldungsfeststellung
Die zur Liquidation der Gesellschaft nach den Vorschriften über den Konkurs eingesetzten Liquidatoren haben, sobald sie eine Überschuldung feststellen, das Gericht zu benachrichtigen; es eröffnet den Konkurs (vgl. OR 731b Abs. 4).
Keine Strafbarkeit wegen Misswirtschaft oder unterlassener Buchführung
Die «SchKG-Konkurseröffnung» ist beim Straftatbestand der Misswirtschaft (StGB 165 Ziff. 1) und beim Straftatbestand der Unterlassung der Buchführung (StGB 166) objektive Strafbarkeitsbedingung.
Bei der Auflösung der Gesellschaft nach OR 731b Abs. 1 Ziff. 3 (gültig seit 31.12.2020) handelt es sich mangels Konkursgrund gemäss SchKG nicht um eine Konkurseröffnung im eigentlichen Sinne, sondern um einen richterlichen Auflösungsentscheid und um eine «Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs».
Sie genügt nicht für die Strafbarkeit:
- Mit anderen Worten fehlt bei einer «Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs» die Möglichkeit zur Bestrafung wegen «Misswirtschaft» oder wegen «Unterlassung der Buchführung».
Vgl. hiezu auch Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Entscheid K 2-2021, vom 06.07.2021
Fazit
Organisationsmängel bei operativen Unternehmen treten meistens bei Uneinigkeiten im Aktionariat, d.h. in sog. «Pattsituationen» (zB zerstrittenes Aktionariat in Zweimann-Gesellschaften, Streit unter den Erben verstorbener Unternehmer, fehlendes Interesse der Aktionäre etc.) auf.
In Sanierungsfällen ist zunehmend anzutreffen, dass für erfolgreiche Departemente eine Auffanggesellschaft gegründet, die verlustreichen Bereiche aber zurückgelassen und das verbliebene Schrumpfunternehmen durch Organverwaisung (VR-Demissionen, Domizilverwaisung usw.) dem «Organisationsmangel-Konkurs» zugeführt werden.
Bei erfolglosen Unternehmen wählen die Entscheidungsträger immer mehr den Weg der sog. «stillen Liquidationen», indem sie entweder als Organ demissionieren und/oder die Domizilgebühren nicht mehr bezahlen lassen, damit der Domizilgeber das Domizilmandat kündigt und ein diesbezüglicher Organisationsmangel eintritt. Früher oder später wird nach Benachrichtigung des Richters durch das Handelsregisteramt und aufgrund unbeantwortet bleibender Richter-Aufforderungen zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands dem Unternehmen der «Todesstoss» gegeben. Das Konkursamt hat dann die sog. «Beerdigungsarbeiten» durchzuführen, sofern und soweit nicht das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt wird. Hat die Gesellschaft Aktiven, die nicht liquid waren, sind wieder die ehemaligen Organe zur Liquidation zuständig. Vermögenslose Rechtseinheiten werden beim Handelsregisteramt gelöscht.
C. Handlungsfähigkeit
I. Voraussetzung
Art. 54 ZGB
Die juristischen Personen sind handlungsfähig, sobald die nach Gesetz und Statuten hiefür unentbehrlichen Organe bestellt sind.
Art. 731b OR
1 Ein Aktionär oder ein Gläubiger kann dem Gericht bei folgenden Mängeln in der Organisation der Gesellschaft beantragen, die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen:
- Der Gesellschaft fehlt eines der vorgeschriebenen Organe.
- Ein vorgeschriebenes Organ der Gesellschaft ist nicht richtig zusammengesetzt.
- Die Gesellschaft führt das Aktienbuch oder das Verzeichnis über die ihr gemeldeten wirtschaftlich berechtigten Personen nicht vorschriftsgemäss.
- Die Gesellschaft hat Inhaberaktien ausgegeben, ohne dass sie Beteiligungspapiere an einer Börse kotiert hat oder die Inhaberaktien als Bucheffekten ausgestaltet sind.
- Die Gesellschaft hat an ihrem Sitz kein Rechtsdomizil mehr.614
1bis Das Gericht kann insbesondere:
- der Gesellschaft unter Androhung ihrer Auflösung eine Frist ansetzen, binnen deren der rechtmässige Zustand wiederherzustellen ist;
- das fehlende Organ oder einen Sachwalter ernennen;
- die Gesellschaft auflösen und ihre Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs anordnen.615
2 Ernennt das Gericht das fehlende Organ oder einen Sachwalter, so bestimmt es die Dauer, für die die Ernennung gültig ist. Es verpflichtet die Gesellschaft, die Kosten zu tragen und den ernannten Personen einen Vorschuss zu leisten.
3 Liegt ein wichtiger Grund vor, so kann die Gesellschaft vom Gericht die Abberufung von Personen verlangen, die dieses eingesetzt hat.
4 Die zur Liquidation der Gesellschaft nach den Vorschriften über den Konkurs eingesetzten Liquidatoren haben, sobald sie eine Überschuldung feststellen, das Gericht zu benachrichtigen; es eröffnet den Konkurs.616
614 Fassung gemäss Ziff. II des BG vom 21. Juni 2019 zur Umsetzung von Empfehlungen des Globalen Forums über Transparenz und Informationsaustausch für Steuerzwecke, in Kraft seit 1. Jan. 2021, Ziff. 4 in Kraft seit 1. Mai 2021 (AS 2019 3161, 2020 957; BBl 2019 279).
615 Eingefügt durch Ziff. I 1 des BG vom 21. Juni 2019 zur Umsetzung von Empfehlungen des Globalen Forums über Transparenz und Informationsaustausch für Steuerzwecke, in Kraft seit 1. Nov. 2019 (AS 2019 3161; BBl 2019 279).
616 Eingefügt durch Ziff. I 2 des BG vom 17. März 2017 (Handelsregisterrecht), in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 957; BBl 2015 3617).
Weiterführende Informationen
- Gesellschaftsrecht / Auflösung + Liquidation
- Stille Liquidation
- Auffanggesellschaft
- Konkurseröffnung
- Liquidation nach den Regeln des Konkurses
- Konkurseinstellung mangels Aktiven
- Strafrecht