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Strassenverkehrslärm: Anspruch auf Wiedererwägung einer Lärmsanierungsverfügung

Datum:
28.09.2023
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Sachenrecht / Immobiliarsachenrecht
Thema:
Strassenverkehrslärm
Stichworte:
Anspruch auf Wiedererwägung, Lärmsanierungsverfügung
Erlass:
Art. 43 Abs. 1 lit. c
Entscheid:
BGer 1C_574/2020 vom 09.03.2023
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Art. 43 Abs. 1 lit. c der Lärmschutz-Verordnung vom 15.12.1986 (LSV; SR 814.41)

Sachverhalt

«Der Kanton Luzern leitete in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts für die Kantonsstrasse K4 (Luzernerstrasse) in Kriens zwischen der Einmündung der Hofstetterstrasse und der Einmündung der Schachenstrasse ein Strassensanierungsprogramm ein. Mit Verfügung vom 30. Juni 2000 gewährte das kantonale Amt für Umweltschutz (Afu, heute: Dienststelle Umwelt und Energie, uwe) für 76 Liegenschaften Sanierungserleichterungen, so auch für das Grundstück an der Luzernerstrasse 32. Dieses Grundstück liegt in der Wohn- und Arbeitszone, wo gemäss Art. 43 Abs. 1 lit. c der Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1986 (LSV; SR 814.41) die Empfindlichkeitsstufe III gilt. Dieser Empfindlichkeitsstufe entsprechend betragen für Strassenverkehrslärm die Immissionsgrenzwerte 65 dB (A) am Tag und 55 dB (A) in der Nacht, die Alarmwerte 70 dB (A) am Tag und 65 dB (A) in der Nacht (Ziff. 2 von Anhang 3 zur LSV). Das Afu ging für das Jahr 2007 (nach der Sanierung) von Lärmimmissionswerten von tagsüber ca. 69 dB (A) und nachts ca. 61 dB (A) aus. Den damaligen Grundeigentümer verpflichtete es zum Einbau von Schallschutzfenstern. Zudem ordnete es für einen Streckenabschnitt den Einbau eines lärmarmen Strassenbelags (Splitt-Mastix-Belag oder Ähnliches) an. Mit Entscheid vom 25. September 2001 bewilligte der Regierungsrat des Kantons Luzern das Strassensanierungsprogramm. Dieses wurde in der Folge umgesetzt.

An der Liegenschaft an der Luzernerstrasse 32 erwarb später A.________ Miteigentum. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2017 ersuchte er die Dienststelle uwe um Widerruf des Erleichterungsentscheids vom 30. Juni 2000 sowie um Neubeurteilung der Lärmsituation.»

Prozess-History

  • Kanton Luzern, Dienststelle uwe
    • Die Dienststelle liess von der B.________ AG im Mai 2018 Lärmmessungen durchführen und wies gestützt auf die daraus gewonnenen Erkenntnisse das Gesuch von A.________ mit Entscheid vom 25. Juni 2019 ab.
  • Kantonsgericht Luzern (KG LU) als Verwaltungsgericht
    • Eine von A.________ dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 31. August 2020 ab, soweit es darauf eintrat.
  • Bundesgericht
    • Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 14. Oktober 2020 beantragt A.________, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben.
      • Die Sache sei zum Widerruf des Erleichterungsentscheids vom 30. Juni 2000 und zur Neubeurteilung der lärmrechtlichen Situation an die Dienststelle uwe, eventualiter an das Kantonsgericht, zurückzuweisen.
    • Stellungnahme der Dienststelle uwe
      • Die Dienststelle uwe schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
    • KG LU
      • Das KG LU beantragt deren Abweisung, soweit darauf einzutreten sei.
    • A.________
      • Der Beschwerdeführer A.________ hält in seiner Stellungnahme dazu an seinen Anträgen fest.
      • Am 2. März 2021 hat er unaufgefordert eine weitere Eingabe eingereicht.
    • BAFU
      • Das ebenfalls zur Vernehmlassung eingeladene Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat sich im Rahmen seiner Zuständigkeit geäussert, ohne einen Antrag in der Sache zu stellen.
      • Es führt unter anderem aus, dass die Strassenlärmsanierung eine Daueraufgabe darstelle und es deshalb als unumgänglich erscheine, auch bereits sanierte Strassenzüge unter den aktuellen Rahmenbedingungen periodisch zu überprüfen.
      • Zudem weist es darauf hin, dass den Messresultaten von 2018 eine Unsicherheit anhafte.
    • Die Verfahrensbeteiligten haben in der Folge weitere Stellungnahmen eingereicht.

Erwägungen

Den umfangreichen und detaillierten Erwägungen des Bundesgerichts liessen sich folgende Leitsätze entnehmen:

  • Nicht mehr aktueller Strassenbelag
    • Gemäss neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse bewirke der dort im Rahmen des Sanierungsentscheids vom Jahr 2000 mit Sanierungserleichterungen verbaute Strassenbelag statt einer Lärmreduktion von 1 dB (A) eine Lärmerhöhung von 1 dB (A) (vgl. Erw. 6.3).
    • Der Belag habe zudem seine «akustische Lebensdauer» überschritten (vgl. Erw. 6.3).
  • Neue Erkenntnisse in der Lärmforschung der vergangenen Jahre
    • Gemäss den neuen Lärmforschungserkenntnissen böten die Lärmgrenzwerte keinen umfassenden Gesundheitsschutz.
    • Jede Massnahme, die zu einer zusätzlichen Reduktion der Lärmbelastung beitrage, könne somit den Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessern.
    • Schliesslich habe sich die Praxis zur Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit seit dem Sanierungsentscheid weiterentwickelt:
      • Zum einen habe sich das damals übliche System zur Lärmmessung (StL-86+) insofern als unzuverlässig erwiesen, als es das Lärmminderungspotential von Tempobeschränkungen unterschätze, weshalb es heute nicht mehr angewandt werde.
      • Zum andern anerkenne die Praxis heute die Tempobeschränkung als taugliches Instrument
        • zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und
        • zum Schutz der Anwohnenden vor übermässigem Lärm.
      • Vgl. Erw. 6.4.
  • BAFU-Zweifel zur methodischen Korrektheit der Lärmmessung
    • Werde das Messgerät für die Verkehrszählung und Geschwindigkeitsmessung an einen Ort verschoben, wo die Immissionen von denjenigen am Standort der Lärmmessungen erheblich abweichen würden,
      • passten die Datenlagen nicht zusammen und
      • es könne keine zuverlässige Normalisierung vorgenommen werden.
        • Es hätte daher Anlass bestanden, die Resultate durch weitere Messungen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.
        • Indem die Behörden trotz dieses Mangels auf den Messbericht abgestellt hätten, seien sie ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen.
    • Vgl. Erw. 6.5.
  • Erheblich veränderte Verhältnisse
    • Zusammenfassend sei davon auszugehen,
      • dass sich die Verhältnisse seit dem Sanierungsentscheid erheblich geändert hätten und,
      • dass daher ein bundesrechtlicher Anspruch auf Wiedererwägung bestehe.
        • Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Lärmimmissionen nahe beim Alarmwert lägen, was ein gesetzliches Kriterium für die Dringlichkeit von Sanierungen darstelle.
        • An die Erheblichkeit der Änderung der Verhältnisse seien keine hohen Anforderungen zu stellen.
    • Vgl. Erw. 6.6.

Die Beschwerde war aus diesen Gründen gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden konnte, und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Sache war an die Dienststelle uwe zurückzuweisen, damit sie die Lärmimmissionen neu ermittelt bzw. die entsprechenden Erhebungen veranlasst und gestützt darauf das Gesuch des Beschwerdeführers neu beurteilt.

Entscheid

  1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 31. August 2020 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die kantonale Dienststelle uwe zurückgewiesen.
  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
  3. Der Kanton Luzern hat den Beschwerdeführer mit Fr. 4’000.– zu entschädigen.
  4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement des Kantons Luzern, Dienststelle Umwelt und Energie (uwe), und dem Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

BGer 1C_574/2020 vom 09.03.2023

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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