BGFA 12 lit. a + BGFA 17 Abs. 1 lit. a – Verwarnung in Disziplinarverfahren
Sachverhalt
«A.________ (nachfolgend Anzeigerin) erstattete am 22. Juli 2022 bei der Anwaltsaufsichtsbehörde des Kantons Bern Anzeige gegen C.________ (nachfolgend Disziplinarbeklagte). Zur Begründung brachte die Anzeigerin vor, dass sie mit Schreiben vom 24. Juni 2022 das Mandat bei der Disziplinarbeklagten widerrufen und die Herausgabe ihres Dossiers verlangt habe. Die Disziplinarbeklagte habe jedoch trotz der Aufforderungen der Anzeigerin bzw. ihres Vertreters, Rechtsanwalt B.________, vom 24. Juni und 1. Juli 2022 die Akten bis zur Anzeige nicht herausgegeben. …»
Herausgabepflichtige Akten
Die Anwältin (Disziplinarbeklagte) hat auf Verlangen der (ehemaligen) Kundin (Anzeigeerstatterin) herauszugeben:
- die Originalakten;
- alle Schriftstücke, welche die Disziplinarbeklagte von Dritten erhalten hat;
- alle Dokumente, welche an die Anzeigeerstatterin gelangt wären, hätte diese den Fall selbst geführt.
Nicht herausgabepflichtige Akten
Nicht herauszugeben hatte Anwältin die Handakten:
- Briefe des Klienten an die Anwältin:
- Kopien der von der Anwältin verfassten Eingaben und Rechtsschriften;
- persönliche Notizen der Anwältin.
Der Klientin ist aber Einblick in die Handakten zu gewähren,
- wenn dies zur Wahrung der Interessen der Klienten erforderlich ist.
Andere Beschaffungsmöglichkeiten kein Exkulpationsgrund
Der Herausgabeanspruch besteht unbesehen der Frage,
- ob sich der neue Rechtsvertreter hätte beschaffen können:
- die Akten bei seiner Klientin oder
- bei Dritten.
Herausgabefrist
Die effektive Aktenzustellung mehr als einen Monat nach dem Herausgabebegehren erfolgte verspätet.
Die Herausgabe hätte innert einer angemessenen Frist zu erfolgen sollen,
- wobei eine Frist von in der Regel 10 Tagen ausreichen dürfte (…).
Kein Rückbehaltungsrecht
Die Anwältin darf die Herausgabe der Akten nicht von der Bezahlung der eigenen Rechnung abhängig machen,
- da sie an den Klientenakten kein Retentionsrecht besitzt und
- weil ihr kein anderes Zurückbehaltungsrecht zusteht,
- was selbst dann gelten würde,
- wenn die Anwältin mit dieser Klientschaft explizit ein Zurückbehaltungsrecht vereinbart hätte.
- was selbst dann gelten würde,
Fazit
Es handelte sich um einen leichten Verstoss: Die Unterlagen wurden herausgegeben, jedoch verspätet.
Das Verschulden war bei dieser Ausgangslage als leicht zu qualifizieren.
Eine Verwarnung als mildeste Sanktion im Sinne eines mahnenden Winks, mit welchem die Disziplinarbeklagte veranlasst werden soll, sich inskünftig untadelig zu verhalten und Verfehlungen, wie sie im vorliegenden Verfahren zur Diskussion stehen, zu unterlassen, erscheint daher angemessen.
Entscheid
Die Anwaltsaufsichtsbehörde hat entschieden:
- Die Disziplinarbeklagte wird wegen Verletzung von Art. 12 lit. a BGFAin Anwendung von Art. 17 Abs. 1 lit. a BGFAverwarnt.
- Die Kosten des Verfahrens in Höhe von CHF 1’500.00 werden der Disziplinarbeklagten zur Zahlung auferlegt.
- Zu eröffnen:
• der Disziplinarbeklagten - Der Anzeigerin wird die Art der Erledigung des Verfahrens mit separatem Schreiben mitgeteilt (Art. 32 Abs. 2 KAG).
Obergericht des Kantons Bern
Anwaltsaufsichtskommission
Entscheid AA 22 153
vom 09.02.2023
Art. 12 BGFA Berufsregeln
Für Anwältinnen und Anwälte gelten folgende Berufsregeln:
- Sie üben ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft aus.
- Sie üben ihren Beruf unabhängig, in eigenem Namen und auf eigene Verantwortung aus.
- Sie meiden jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen.
- Sie können Werbung machen, solange diese objektiv bleibt und solange sie dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entspricht.
- Sie dürfen vor Beendigung eines Rechtsstreits mit der Klientin oder dem Klienten keine Vereinbarung über die Beteiligung am Prozessgewinn als Ersatz für das Honorar abschliessen; sie dürfen sich auch nicht dazu verpflichten, im Falle eines ungünstigen Abschlusses des Verfahrens auf das Honorar zu verzichten.
- Sie haben eine Berufshaftpflichtversicherung nach Massgabe der Art und des Umfangs der Risiken, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind, abzuschliessen; die Versicherungssumme muss mindestens eine Million Franken pro Jahr betragen; anstelle der Haftpflichtversicherung können andere, gleichwertige Sicherheiten erbracht werden.
- Sie sind verpflichtet, in dem Kanton, in dessen Register sie eingetragen sind, amtliche Pflichtverteidigungen und im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege Rechtsvertretungen zu übernehmen.
- Sie bewahren die ihnen anvertrauten Vermögenswerte getrennt von ihrem eigenen Vermögen auf.
- Sie klären ihre Klientschaft bei Übernahme des Mandates über die Grundsätze ihrer Rechnungsstellung auf und informieren sie periodisch oder auf Verlangen über die Höhe des geschuldeten Honorars.
- Sie teilen der Aufsichtsbehörde jede Änderung der sie betreffenden Daten im Register mit.
Art. 17 BGFA Disziplinarmassnahmen
1 Bei Verletzung dieses Gesetzes kann die Aufsichtsbehörde folgende Disziplinarmassnahmen anordnen:
- eine Verwarnung;
- einen Verweis;
- eine Busse bis zu 20 000 Franken;
- ein befristetes Berufsausübungsverbot für längstens zwei Jahre;
- ein dauerndes Berufsausübungsverbot.
2 Eine Busse kann zusätzlich zu einem Berufsausübungsverbot angeordnet werden.
3 Nötigenfalls kann die Aufsichtsbehörde die Berufsausübung vorsorglich verbieten.
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam