Verfahrenskoordination und Rekurszuständigkeit: Praxisänderung
Sachverhalt
«Der Stadtrat Winterthur beschloss am 26. Mai 2021 unter dem Titel «Strassenlärm Immissionsgrenzwertsanierung (IGW): Verkehrsanordnungen: Haldenstrasse, Kanzleistrasse, Rychenbergstrasse, Tössertobelstrasse, Untere Briggerstrasse, Wülflingerstrasse», Tempo-30-Zonen zu signalisieren, teilweise verbunden mit weiteren Massnahmen.» (Quelle: VGer-Urteil).
Prozess-History
- Statthalteramt des Bezirks Winterthur
- Gegen den hievor erwähnten Stadtratsbeschluss erhoben zehn Personen Rekurs beim Statthalteramt des Bezirks Winterthur. Nach Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels verfügte die Statthalterin am 8. Juli 2022:
- «I. Auf die Rekurse der Rekurrenten 1 bis 10 wird nicht eingetreten. Die Rekursgegnerin wird eingeladen, die Eingaben im Einspracheverfahren zu behandeln.
- II. Es wird festgestellt, dass der Beschluss der Rekursgegnerin vom 26. Mai 2021 betreffend Einführung von Tempo 30 nichtig ist. …»
- Die Verfahrenskosten wurden der Stadt Winterthur auferlegt (Dispositivziffer III); Parteientschädigungen wurden nicht zugesprochen (Dispositivziffer IV).
- Gegen den hievor erwähnten Stadtratsbeschluss erhoben zehn Personen Rekurs beim Statthalteramt des Bezirks Winterthur. Nach Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels verfügte die Statthalterin am 8. Juli 2022:
- Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
- Mit Beschwerde vom 8. September 2022 beantragte namens der Stadt Winterthur der Rechtsdienst des Baupolizeiamts dem Verwaltungsgericht:
- «1.1. Es sei die Nichtigkeit von Ziffer II. der Verfügung des Statthalteramtes Bezirk Winterthur vom 8. Juli 2022 festzustellen.
- 1.2. Eventualiter sei Ziffer II. der Verfügung des Statthalteramtes Bezirk Winterthur vom 8. Juli 2022 aufzuheben und der Beschluss der Beschwerdeführerin vom 26. Mai 2021 wiederherzustellen.
- 2. Ziffer I. Satz 2 und Ziffer III. der Verfügung des Statthalteramtes Bezirk Winterthur vom 8. Juli 2022 seien aufzuheben und es seien die Kosten des vorinstanzlichen Rekursverfahrens den Beschwerdegegnern 3 bis 9 aufzuerlegen.
- Unter Kostenfolgen zulasten der Vorinstanz, eventualiter zulasten der Beschwerdegegner 3 bis 9.» (Quelle: VGer- Urteil).
- Mit Beschwerde vom 8. September 2022 beantragte namens der Stadt Winterthur der Rechtsdienst des Baupolizeiamts dem Verwaltungsgericht:
Erwägungen
Den umfangreichen und detaillierten Erwägungen des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich liessen sich folgende Leitsätze entnehmen:
- Einhaltung der Strassen-Immissionsgrenzwerte
- Die Einführung einer Tempo-30-Zone kann für sich allein zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte von Strassen bei einer Lärmsanierung nicht ausreichen.
- Sollte der Strassenhalter gleichzeitig keine strassenbaulichen Massnahmen als notwendig bzw. verhältnismässig erachten,
- dürfte er ergänzend bloss Erleichterungen im Sinne von Art. 17 USG beantragen,
- um der Lärmsanierungspflicht insgesamt formell Genüge zu tun.
- dürfte er ergänzend bloss Erleichterungen im Sinne von Art. 17 USG beantragen,
- Sollte der Strassenhalter gleichzeitig keine strassenbaulichen Massnahmen als notwendig bzw. verhältnismässig erachten,
- Die Einführung einer Tempo-30-Zone kann für sich allein zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte von Strassen bei einer Lärmsanierung nicht ausreichen.
- Erleichterungen
- Die Gewährung solcher Erleichterungen und die damit verbundenen Schallschutzmassnahmen an den übermässig vom Strassenlärm betroffenen Gebäuden
- bilden Bestandteil eines Strassenprojekts.
- Die Gewährung solcher Erleichterungen und die damit verbundenen Schallschutzmassnahmen an den übermässig vom Strassenlärm betroffenen Gebäuden
- Verzicht auf strassenbauliche Massnahmen
- Verzichtet der Strassenhalter auf strassenbauliche Massnahmen,
- so betreffen die Erleichterungen mitunter den einzigen Gegenstand des Strassenprojekts.
- Verzichtet der Strassenhalter auf strassenbauliche Massnahmen,
- Gesamtpaket bzw. Konzept
- Das Gesamtpaket bzw. das dahinterstehende Konzept
- strebt diesfalls bezüglich Temporeduktion und Erleichterungen eine Lärmsanierung gemäss Art. 16 USG an und
- vollzieht damit Bundesumweltrecht.
- Das Gesamtpaket bzw. das dahinterstehende Konzept
- Höchstgeschwindigkeit und Verzicht auf strassenbauliche Massnahmen
- Im Hinblick auf die Lärmsanierung einer Strasse weisen
- einen engen lärmrechtlichen Bezug zu geplanten Erleichterungen auf
- nicht nur die Frage der zulässigen Höchstgeschwindigkeit,
- sondern auch der damit einhergehende Verzicht auf strassenbauliche Massnahmen.
- einen engen lärmrechtlichen Bezug zu geplanten Erleichterungen auf
- Im Hinblick auf die Lärmsanierung einer Strasse weisen
- Koordinationspflicht von Temporeduktionsmassnahme und Strassenprojekt
- Falls dahinter ein Lärmsanierungs-Konzept steht,
- ist aus den vorstehenden Ausführungen der Grundsatz nach einer Koordinationspflicht zwischen Temporeduktionsmassnahme und Strassenprojekt abzuleiten.
- Falls dahinter ein Lärmsanierungs-Konzept steht,
- Verfahrensabläufe
- Nach Ausführungen zu den unterschiedlichen Verfahrensabläufen und den Rechtsmittelwegen bei funktionellen Verkehrsanordnungen und Strassenprojekten kam das VGer ZH zum Schluss,
- dass bei einer Temporeduktionsmassnahme und bei einem Strassenprojekt eines der beiden Verfahren als Leitverfahren zu behandeln ist, welches
- zu sorgen hat für die
- koordinierte Publikation und
- Entscheideröffnung
- zu sorgen hat für die
- und
- anzuschliessen hat
- an das ein einheitliches Rechtsmittelverfahren.
- anzuschliessen hat
- dass bei einer Temporeduktionsmassnahme und bei einem Strassenprojekt eines der beiden Verfahren als Leitverfahren zu behandeln ist, welches
- Nach Ausführungen zu den unterschiedlichen Verfahrensabläufen und den Rechtsmittelwegen bei funktionellen Verkehrsanordnungen und Strassenprojekten kam das VGer ZH zum Schluss,
- Anzuknüpfendes Leitverfahren
- Als Leitverfahren in diesem Sinne ist bei der Lärmsanierung die Festsetzung des Strassenprojekts festzulegen.
- Anknüpfungsfolge
- Diese Anknüpfung führt dazu,
- dass die gesetzliche Rekursinstanz für das Strassenprojekt, d.h. Baurekursgericht bzw. Regierungsrat,
- im Rahmen einer (koordinierten) Lärmsanierung auch die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit zu beurteilen hat.
- dass die gesetzliche Rekursinstanz für das Strassenprojekt, d.h. Baurekursgericht bzw. Regierungsrat,
- Diese Anknüpfung führt dazu,
- Rekurszuständigkeit
- Der damit verbundene Verstoss gegen die Regelung von § 19b VRG
- zur Rekurszuständigkeit der oberen Instanz (Bezirksbehörde bzw. Sicherheitsdirektion)
- ist in Kauf zu nehmen.
- zur Rekurszuständigkeit der oberen Instanz (Bezirksbehörde bzw. Sicherheitsdirektion)
- Der damit verbundene Verstoss gegen die Regelung von § 19b VRG
- Einführung der Tempo-30-Zone
- Ausgangspunkt des vorliegenden Verfahrens war
- die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit bzw. die Einführung einer Tempo-30-Zone;
- darüber entschied der Stadtrat am 26. Mai 2021.
- die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit bzw. die Einführung einer Tempo-30-Zone;
- Ausgangspunkt des vorliegenden Verfahrens war
- Festsetzung des Strassenprojekts
- Hingegen setzte er das Strassenprojekt, mit dem er die beantragten Erleichterungen gewährte, am 2. November 2022 fest.
- Beide Anordnungen für Lärmsanierungskonzept
- Beide Anordnungen setzten dasselbe Lärmsanierungskonzept um.
- Strassenhalter-Motive
- Zwar hat die Beschwerdeführerin die Einführung der Tempo-30-Zone auch mit Gründen der Verkehrssicherheit gerechtfertigt.
- Dieser Umstand führte aber nicht dazu,
- dass die Verkehrsanordnung isoliert hätte eröffnet werden dürfen.
- Vielmehr erforderten bereits die konkret geplanten Erleichterungen
- eine Koordination der beiden Projekte bzw. Massnahmen.
- Eine Koordination erfolgte in concreto nicht.
- Dieser Umstand führte aber nicht dazu,
- Zwar hat die Beschwerdeführerin die Einführung der Tempo-30-Zone auch mit Gründen der Verkehrssicherheit gerechtfertigt.
- Rekursinstanz
- Vorliegend musste als Rekursinstanz gegen den kommunalen Beschluss vom 26. Mai 2021 in Nachachtung des Koordinationsgebots und entgegen der Bestimmung von § 19b VRG zum Zuge kommen:
- das Baurekursgericht.
- Im Ergebnis trat das Statthalteramt somit
- zu Recht – nämlich mangels Zuständigkeit – auf die Rekurse nicht ein.
- Anstelle der Feststellung der Nichtigkeit des angefochtenen Beschlusses hätten die Rekurse richtigerweise
- an das Baurekursgericht zur Behandlung weitergeleitet werden müssen.
- Vorliegend musste als Rekursinstanz gegen den kommunalen Beschluss vom 26. Mai 2021 in Nachachtung des Koordinationsgebots und entgegen der Bestimmung von § 19b VRG zum Zuge kommen:
Dies hat zu führen zur:
- Teilweisen Gutheissung;
- Überweisung der Rekurse zur weiteren Behandlung im Sinne der Erwägungen ans Baurekursgericht.
Die Beschwerde war aus vorgenannten Gründen teilweise gutzuheissen und die Sache an das Baurekursgericht des Kantons Zürich zu überweisen.
Entscheid
- Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und Dispositivziffern I und II des Rekursentscheids des Statthalteramts Winterthur vom 8. Juli 2022 werden aufgehoben. Die Rekurse der Beschwerdegegnerschaft gegen den Beschluss des Stadtrats Winterthur vom 26. Mai 2021 werden zur weiteren Behandlung im Sinn der Erwägungen an das Baurekursgericht überwiesen.
In Abänderung von Dispositivziffer III des Rekursentscheids werden die Kosten des Rekursverfahrens von Fr. 2’749.40 auf die Kasse des Statthalteramts Winterthur genommen.
Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
- Die Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf
Fr. 4’000.–; die übrigen Kosten betragen:
Fr. 685.– Zustellkosten,
Fr. 4’685.– Total der Kosten. - Die Gerichtskosten werden auf die Gerichtskasse genommen.
- Für das Beschwerdeverfahren werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
- Gegen dieses Urteil kann im Sinn der Erwägungen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. des Bundesgerichtsgesetzes erhoben werden. Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung an gerechnet, beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, einzureichen.
- Mitteilungen
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
3. Abteilung, 3. Kammer
Urteil vom 20.04.2023
VB.2022.00528 (URT.2023.24505)
3. Abschnitt: Sanierungen
Art. 16 USG Sanierungspflicht
1 Anlagen, die den Vorschriften dieses Gesetzes oder den Umweltvorschriften anderer Bundesgesetze nicht genügen, müssen saniert werden.
2 Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Anlagen, den Umfang der zu treffenden Massnahmen, die Fristen und das Verfahren.
3 Bevor die Behörde erhebliche Sanierungsmassnahmen anordnet, holt sie vom Inhaber der Anlage Sanierungsvorschläge ein.
4 In dringenden Fällen ordnen die Behörden die Sanierung vorsorglich an. Notfalls können sie die Stilllegung einer Anlage verfügen.
Art. 17 USG Erleichterungen im Einzelfall
1 Wäre eine Sanierung nach Artikel 16 Absatz 2 im Einzelfall unverhältnismässig, gewähren die Behörden Erleichterungen.
2 Die Immissionsgrenzwerte für Luftverunreinigungen sowie der Alarmwert für Lärmimmissionen dürfen jedoch nicht überschritten werden.29
29 Fassung gemäss Ziff. I 10 des BG vom 17. März 2017 über das Stabilisierungsprogramm 2017–2019, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 5205; BBl 2016 4691).
Art. 18 USG Umbau und Erweiterung sanierungsbedürftiger Anlagen
1 Eine sanierungsbedürftige Anlage darf nur umgebaut oder erweitert werden, wenn sie gleichzeitig saniert wird.
2 Erleichterungen nach Artikel 17 können eingeschränkt oder aufgehoben werden.
Rekursinstanz
19 b VRG ZH
1 Anordnungen einer unteren Behörde können an die obere Behörde weitergezogen werden.
2 Rekursinstanz ist
a. der Regierungsrat bei Anordnungen
1. einer Direktion,
2. einer von einem Mitglied des Regierungsrates geleiteten Kommission,
3. der Bezirksräte und Statthalter,
b. die Direktion bei Anordnungen
1. einer Verwaltungseinheit der Direktion,
2. einer Gemeinde oder einer Kreiswahlvorsteherschaft in Stimmrechtssachen des Kantons,
c. der Bezirksrat bei Anordnungen
1. einer politischen Gemeinde,
2. einer Schulgemeinde,
3. einer Anstalt,
4. eines Zweckverbandes,
5. eines Privaten, der öffentliche Aufgaben wahrnimmt,
d. das Statthalteramt bei Anordnungen der politischen Gemeinden im Bereich der Ortspolizei und des Feuerwehrwesens,
e. der Kantonsrat hinsichtlich des Ergebnisses einer Kantonsratswahl; er entscheidet auf Antrag des Regierungsrates,
f. die Geschäftsleitung des Kantonsrates bei Anordnungen seiner Kommissionen,
g. die Verwaltungsdelegation der Geschäftsleitung des Kantonsrates bei Anordnungen in personalrechtlichen und administrativen Belangen
1. des Beauftragten für den Datenschutz,
2. des Leiters der Finanzkontrolle,
3. der Ombudsperson,
4. des Chefs der Parlamentsdienste.
3 Abweichende gesetzliche Regelungen bleiben vorbehalten.
4 Hat eine Rekursinstanz im Einzelfall Rat oder Weisung erteilt, dass oder wie eine Vorinstanz entscheiden soll, ist die der Rekursinstanz übergeordnete Verwaltungsbehörde für die Behandlung des Rekurses zuständig. In der Rechtsmittelbelehrung ist diese Behörde als Rekursinstanz anzugeben.
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam