Swisscom muss für spezielle 5G-Antennen inskünftig Baugesuche einreichen
Sachverhalt
Der Telecom-Provider Swisscom (Schweiz) AG (kurz: «Swisscom») betrieb in der Gemeinde Wil SG – innerhalb der Bauzone – drei Mobilfunkantennen, die 2019 mit sog. «adaptiven Antennen» ausgerüstet wurden:
- Diese «adaptiven Antennen» wurden nach dem sog. «Worst-Case-Szenario» beurteilt, d.h.
- ohne Berücksichtigung eines Korrekturfaktors.
Für den neu unter Anwendung eines Korrekturfaktors erfolgenden Betrieb reichte die «Swisscom» im Juni 2021 je ein Standortdatenblatt bei der Gemeinde ein:
- Die Politische Gemeinde Wil SG
- vertrat die Ansicht, es sei ein ordentliches Baubewilligungsverfahren durchzuführen;
- verfügte die Einstellung des vom letzten aktiven Standortdatenblatt abweichenden Betriebs.
Prozess-History
- Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Departement)
- Die «Swisscom» rekurrierte am 25.07.2022 an das «Departement», dieses vereinigte die drei Verfahren und wies die Rekurse am 10.01.2023 ab.
- Einer allfälligen Beschwerde entzog es die aufschiebende Wirkung.
- Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen
- Die dagegen erhobene Beschwerde der Swisscom wies das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung I, am 17. August 2023 (B 2023/11) ab.
- Das Verwaltungsgericht bejahte die Baubewilligungspflicht gestützt auf Art. 136 Abs. 1 und 2 des kantonalen Planungs- und Baugesetzes vom 5. Juli 2016 (PBG/SG; sGS 731.1). Ziff. 1b des Dispositivs des Rekursentscheids betreffend die Mobilfunkanlage WITZ änderte es dahin ab, dass auf das Gesuch vom 04.07.2022 nicht einzutreten sei.
- Bundesgericht
- Gegen den verwaltungsgerichtlichen Entscheid hat «Swisscom» am 20.09.2023 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben.
Erwägungen des Bundesgerichts
Strittig war vorliegend, ob die Anwendung eines «Korrekturfaktors» auf die bisher nach dem «Worst-Case-Szenario» beurteilten adaptiven Antennen der Anlagen der Beschwerdeführerin eine Baubewilligung voraussetzt oder, ob es genügt, der zuständigen Behörde ein aktualisiertes Standortdatenblatt einzureichen.
Im Einzelnen:
- Interesse der Öffentlichkeit mit vorgängiger Kontrolle
- Die neue Anwendung des «Korrekturfaktors» auf bisher nach dem «Worst-Case-Szenario» bewilligte adaptive Antennen begründet regelmässig ein Interesse der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind.
- Überprüfung auch ausserhalb eines Baubewilligungsverfahrens?
- Grundsätzlich können betroffene Personen zwar eine behördliche Überprüfung von Immissionen auch ausserhalb eines Baubewilligungsverfahrens verlangen.
- Dies setzt aber voraus,
- dass die betroffenen Personen von den Immissionen Kenntnis haben, was ohne Publikation eines Baugesuchs nicht gewährleistet ist;
- dass die Anwendung eines «Korrekturfaktors» bei bestehenden adaptiven Sendeantennen nicht als Änderung der Anlage gilt (vgl. 63 Abs. 2 + 3 Anhang 1 NISV).
- Eine solche Überprüfung ausserhalb eines Baubewilligungsverfahrens lässt aber keine Aussage zur Baubewilligungspflicht zu.
- NISV-Änderung der Mobilfunkanlage kein Rückschluss auf Baubewilligungspflicht
- Aus dem Sachverhalt, dass keine Anlagenänderung im Sinne der NISV vorliege, kann nicht geschlossen werden, es sei in keinem Fall eine Baubewilligung erforderlich.
- Baubewilligungsverfahren geboten
- In dieser Situation ist die Durchführung eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens erforderlich, zwecks der
- Wahrung des rechtlichen Gehörs der Betroffenen;
- Gewährleistung des Rechtsschutzes der betroffenen Personen in zumutbarer Weise.
- Fazit
- Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist eine Baubewilligung nach RPG 22 ohnehin erforderlich.
- In dieser Situation ist die Durchführung eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens erforderlich, zwecks der
Entscheid des Bundesgerichts
- Abweisung der Beschwerde;
- Auferlegung der Gerichtskosten an die «Swisscom».
BGer 1C_506 /2023 vom 23.04.2024
Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV)
Quelle: Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) (PDF, 338 kB)
FAQ zu adaptiven Antennen
Aus Verständnisgründen drängt sich ein kurzer Überblick über adaptive Antennen und die für sie vorgenommenen Änderungen der NISV auf:
«2. Gemäss Art. 4 Abs. 1 NISV müssen Mobilfunkanlagen so erstellt und betrieben werden, dass sie die in Anh. 1 NISV festgelegten vorsorglichen Emissionsbegrenzungen einhalten. Ziff. 64 Anh. 1 NISV legt den jeweils geltenden Anlagegrenzwert (AGW) für den Effektivwert der elektrischen Feldstärke je nach Frequenzbereich fest. Dieser muss von sämtliche Anlagen im massgebenden Betriebszustand an Orten mit empfindlicher Nutzung (OMEN) eingehalten werden (Ziff. 65 Anh. 1 NISV). Als massgebender Betriebszustand gilt grundsätzlich der maximale Gesprächs- und Datenverkehr bei maximaler Sendeleistung (Ziff. 63 Abs. 1 Anh. 1 NISV). Ziff. 62 Abs. 5 Anh. 1 NISV definiert die Änderung einer Anlage. Als solche gilt die Änderung der Lage von Sendeantennen (lit. a), der Ersatz von Sendeantennen durch solche mit einem andern Antennendiagramm (lit. b), die Erweiterung mit zusätzlichen Sendeantennen (lit. c), die Erhöhung der ERP (äquivalente Strahlungsleistung [» effective radiated power «]; vgl. Art. 3 Abs. 9 NISV) über den bewilligten Höchstwert hinaus (lit. d) oder die Änderung von Senderichtungen über den bewilligten Winkelbereich hinaus (lit. e).
2.1. Die bisher üblichen (konventionellen) Antennen weisen eine räumlich konstante Abstrahlcharakteristik auf, die nur innerhalb eines begrenzten Bereichs manuell oder ferngesteuert angepasst werden kann. Dagegen verändern sog. adaptiven Antennen ihre Strahlung (Senderichtung und/oder Antennendiagramm) in kurzen zeitlichen Abständen, um die Strahlung bevorzugt in jene Richtungen zu übertragen, wo sie durch die Endgeräte angefordert wird (» beamforming «; vgl. Urteil 1C_100/2021 vom 14. Februar 2023 E. 4; 1C_481/2022 vom 13. November 2023 E. 2). Adaptive Antennen werden aus technischen Gründen insbesondere bei höheren Frequenzen eingesetzt, namentliche für die von der 5. Generation des Mobilfunks (5G) genutzten Frequenzbänder um 3.6 GHz.
2.2. Am 17. April 2019 passte der Bundesrat Anh. 1 NISV im Hinblick auf die neue Antennentechnologie an: Er definierte adaptive Antennen in Ziff. 62 Abs. 6 und ergänzte Ziff. 63 NISV dahin, dass bei adaptiven Antennen für die Bestimmung des massgebenden Betriebszustands die Variabilität der Senderichtungen und der Antennendiagramme berücksichtigt werde. Die konkrete Ausgestaltung dieses Grundsatzes sollte auf Stufe Vollzugshilfe erfolgen (BAFU, Erläuterungen vom 17. April 2019 zur Änderung der NISV, Verordnungspaket Umwelt Frühling 2019, Ziff. 4.4). Bis dahin empfahl das BAFU den kantonalen und kommunalen NIS-Fachstellen, die Strahlung von adaptiven Antennen wie bei konventionellen Antennen zu berechnen, d.h. basierend auf einem Antennendiagramm, das für jede Senderichtung den maximal möglichen Antennengewinn berücksichtigt (sog. «Worst-Case-Szenario»). Damit sei sichergestellt, dass die Beurteilung für die betroffene Bevölkerung auf der sicheren Seite bleibe und die Langzeitbelastung in jedem Fall tief gehalten werde (Schreiben vom 17. April 2019 und 31. Januar 2020; vgl. dazu Urteile 1C_100/2021 vom 14. Februar 2023 E. 6.2; 1C_101/2021 vom 13. Juli 2023 E. 3.5 mit Hinweisen).
2.3. Am 23. Februar 2021 publizierte das BAFU den Nachtrag «Adaptive Antennen» zur Vollzugsempfehlung NISV für Mobilfunk- und WLL-Basisstation (nachfolgend: Vollzugshilfe). Diese sieht für adaptive Antennen die Anwendung eines Korrekturfaktors vor. Das BAFU hielt fest, mit dem «Worst-Case-Szenario» werde die tatsächliche Strahlung in der Umgebung der Antenne zu hoch eingeschätzt, weil nicht in jede Richtung gleichzeitig die maximale Sendeleistung abgestrahlt werde. In einer «Übergangsregelung» wurde festgehalten, dass der Betrieb von bereits zuvor mittels «Worst-Case»-Betrachtung bewilligten adaptiven Antennen an den Nachtrag angepasst werden könne; dies gelte nicht als Änderung im Sinne von Ziff. 62 Abs. 5 Anh. 1 NISV, wenn die ERP unter Berücksichtigung des Korrekturfaktors nicht ändere. Der Behörde sei ein aktualisiertes Standortdatenblatt nachzureichen.
2.4. Die Konferenz der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren (BPUK) kam, gestützt auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten (JEAN-BAPTISTE ZUFFEREY/MATTHIEU SEYDOUX, Les procédures cantonales applicables à la mise en place de la technologie 5G des antennes de téléphonie mobile, Freiburg, 7. Juni 2021), zum Ergebnis, dass die Vollzugshilfe den Kantonen zu wenig Rechtssicherheit für die Anpassung ihrer Bewilligungsverfahren biete.
Daraufhin beschloss der Bundesrat am 17. Dezember 2021, die wesentlichen Elemente des Nachtrags «Adaptive Antennen» in Anh. 1 NISV aufzunehmen (AS 2021 901, in Kraft seit 1. Januar 2022). Dessen Ziff. 63 Abs. 2 sieht nunmehr für adaptive Sendeantennen mit 8 oder mehr separat ansteuerbaren Antenneneinheiten (Sub-Arrays) vor, dass auf die maximale ERP ein Korrekturfaktor KAA angewendet werden kann, wenn die Sendeantennen mit einer automatischen Leistungsbegrenzung ausgestattet werden. Diese muss sicherstellen, dass im Betrieb die über 6 Minuten gemittelte ERP die korrigierte ERP nicht überschreitet. Der Korrekturfaktor beträgt gemäss Ziff. 63 Abs. 3 ≥0.10 (bei 64 und mehr Sub-Arrays), ≥ 0.13 (32 bis 63 Sub-Arrays), ≥ 0.20 (16 – 31 Sub-Arrays) und ≥ 0.40 (8 bis 15 Sub-Arrays). Wird bei bestehenden adaptiven Sendeantennen ein Korrekturfaktor KAA angewendet, so reicht der Inhaber der Anlage der zuständigen Behörde ein aktualisiertes Standortdatenblatt ein (Ziff. 63 Abs. 4 Anh. 1 NISV). Die Anwendung eines Korrekturfaktors bei bestehenden adaptiven Sendeantennen gilt nicht als Änderung einer Anlage (Ziff. 62 Abs. 5bis Anh. 1 NISV).»
Erwägungen 2, 2.1 – 2.4
Weiterführende Informationen
- Adaptive Antennen
- Mobilfunkantenne: Notruf
- Mobilfunkantenne: Dienstbarkeit
Quelle
LawMedia Redaktionsteam