Einleitung
Wer den Antrag auf eine IV-Rente stellt, muss im schlimmsten Fall gewärtigen, dass er die beantragte Rente nicht erhält, aber möglicherweise den Führerausweis verliert. Dazu im Einzelnen:
Agenda
Ausgangslage
Aufgrund des Massnahmenpakets «Via sicura» wurde ein Melderecht der IV-Stellen – mit Wirkung ab 01.01.2020 – eingeführt.
Gesetzliche Grundlage
- IVG 66c
- SVG 15d Abs. 1 lit. d
Art. 66c IVG 379 Leistungsfähigkeit zum Führen von Motorfahrzeugen380
1 Zweifelt die IV-Stelle, dass die versicherte Person über die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit verfügt, die zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen oder von Schiffen oder zum sicheren Ausüben eines nautischen Dienstes an Bord eines Schiffes notwendig ist, so kann sie die versicherte Person der zuständigen kantonalen Behörde (Art. 22 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dez. 1958381 und Art. 17b Abs. 4 des BG vom 3. Okt. 1975382 über die Binnenschifffahrt) melden.383
2 Die IV-Stelle informiert die versicherte Person über diese Meldung.
3 Auf Anfrage stellt die IV-Stelle der kantonalen Behörde die entsprechenden Unterlagen im Einzelfall zu.
379 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket), in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5659; BBl 2010 1817).
383 Fassung gemäss Ziff. II 2 des BG vom 17. März 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 1749; BBl 2016 6435).
Abklärung der Fahreignung oder der Fahrkompetenz
Art. 15d SVG 55
1 Bestehen Zweifel an der Fahreignung einer Person, so wird diese einer Fahreignungsuntersuchung unterzogen, namentlich bei:
- Fahren in angetrunkenem Zustand mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Gewichtspromille oder mehr oder mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg Alkohol oder mehr pro Liter Atemluft;
- Fahren unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln oder bei Mitführen von Betäubungsmitteln, die die Fahrfähigkeit stark beeinträchtigen oder ein hohes Abhängigkeitspotenzial aufweisen;
- Verkehrsregelverletzungen, die auf Rücksichtslosigkeit schliessen lassen;
- Meldung einer kantonalen IV-Stelle nach Artikel 66c des Bundesgesetzes vom 19. Juni 195956 über die Invalidenversicherung;
- Meldung eines Arztes, dass eine Person wegen einer körperlichen oder psychischen Krankheit, wegen eines Gebrechens oder wegen einer Sucht Motorfahrzeuge nicht sicher führen kann.
2 Die kantonale Behörde bietet Personen ab dem vollendeten 75. Altersjahr alle zwei Jahre zu einer vertrauensärztlichen Untersuchung auf.57 Sie kann das Intervall für die Untersuchung verkürzen, wenn die Fahreignung einer Person wegen bestehender Beeinträchtigungen häufiger kontrolliert werden muss.
3 Ärzte sind in Bezug auf Meldungen nach Absatz 1 Buchstabe e vom Berufsgeheimnis entbunden. Sie können die Meldung direkt an die zuständige kantonale Strassenverkehrsbehörde oder an die Aufsichtsbehörde für Ärzte erstatten.
4 Auf Ersuchen der IV-Stelle teilt die kantonale Behörde dieser mit, ob eine bestimmte Person einen Führerausweis besitzt.
5 Bestehen Zweifel an der Fahrkompetenz einer Person, so kann diese einer Kontrollfahrt, einer Theorieprüfung, einer praktischen Führerprüfung oder einer andern geeigneten Massnahme wie einer Aus- oder Weiterbildung oder einer Nachschulung unterzogen werden.
55 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Jan. 2013, Abs. 1 Bst. a in Kraft seit 1. Juli 2014 (AS 2012 6291, 2013 4669; BBl 2010 8447, 2012 5959).
57 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 29. Sept. 2017, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 2807; BBl 2017 3649 3833).
Praxis
Melderecht
- Melderecht, keine Meldepflicht
- IV-Stellen dürfen Strassenverkehrsämtern Ihre Zweifel an der Fahrtauglichkeit eines Versicherten melden (vgl. IVG 66c i.V.m. SVG 15d Abs. 1 lit. d), wobei das Melderecht i.d.R. nur im Zusammenhang mit Rentenleistungsanträgen genutzt wird.
- Eine Meldepflicht besteht nicht.
- Datenbekanntgabe
- Die IV-Stelle ist berechtigt, im Rahmen ihrer Meldung an die kantonale Strassenverkehrsbehörde die für die Beurteilung der Fahreignung und der Fahrkompetenz erforderlichen Daten bekannt zu geben (IVG 66c Abs. 3), wie
- Arztberichte
- Abklärungen der IV-Stelle.
- Die IV-Stelle ist berechtigt, im Rahmen ihrer Meldung an die kantonale Strassenverkehrsbehörde die für die Beurteilung der Fahreignung und der Fahrkompetenz erforderlichen Daten bekannt zu geben (IVG 66c Abs. 3), wie
- Information an die versicherte Person
- Die IV-Stelle hat die versicherte Person über die Meldung ans Strassenverkehrsamt aktiv zu informieren (vgl. IVG 66c Abs. 2):
- Bekanntzugebende Daten;
- Zweck der Bekanntgabe;
- Datenempfänger.
- Die Information an die versicherte Person hat i.d.R. vor der «Meldung» zu erfolgen.
- Die IV-Stelle hat die versicherte Person über die Meldung ans Strassenverkehrsamt aktiv zu informieren (vgl. IVG 66c Abs. 2):
- Meldung v.a. aus psychischen, aber auch aus körperlichen Gründen
- Eine Meldung hat vor allem bei einer Invalidität aus psychischen Gründen zu erfolgen.
- In solchen Fällen ist abzuklären, ob sich die psychische Erkrankung mit dem sicheren Führen von Motorfahrzeugen vereinbaren lässt:
- allfällige negative Auswirkungen der Invalidität auf die Fahreignung der Person.
- In solchen Fällen ist abzuklären, ob sich die psychische Erkrankung mit dem sicheren Führen von Motorfahrzeugen vereinbaren lässt:
- Eine Meldung kann auch bezüglich körperlich behinderter Personen erfolgen.
- Körperlicher Beeinträchtigung kann oft Rechnung getragen werden, durch
- technische Lösungen (Fahrzeugumbau);
- Beschränkungen der Fahrberechtigung.
- Körperlicher Beeinträchtigung kann oft Rechnung getragen werden, durch
- Eine Meldung hat vor allem bei einer Invalidität aus psychischen Gründen zu erfolgen.
- Informationsrecht der IV-Stelle
- Damit die IV-Stelle die Fahrberechtigung einer Person in Erfahrung bringen kann, hat ihr das Strassenverkehrsamt auf Ersuchen Auskunft zu erteilen (vgl. SVG 15d Abs. 4).
Vorsorglicher Führerausweisentzug
- Erstattet die IV-Stelle eine Meldung an das Strassenverkehrsamt, muss dem Betroffenen vorsorglich der Führerausweis entzogen werden.
- Ob die Zweifel ernsthaft und/oder begründet sind, ist irrelevant:
- Das Bundesgericht (BGer) erachtet eine Meldung der IV-Stelle als genügenden Grund für einen vorsorglichen Führerausweisentzug.
Fahreignungsuntersuchung
- Kompetenz + Verantwortung bei der Strassenverkehrsbehörde
- Das zuständige Strassenverkehrsamt veranlasst eine verkehrsmedizinische Untersuchung, ggf. eine verkehrspsychologische Abklärung, welche auf Kosten der versicherten Person erfolgt (vgl. BGer 1C_405/2022 vom 05.12.2022).
- Koordination
- Die Strassenverkehrsbehörde kann ihre Abklärungen mit der IV-Stelle koordinieren.
- Prüfungsfokus
- Im Unterschied zum IV-Verfahren ist aber nicht die Invaliditäts-Frage zu prüfen, sondern die Auswirkungen der (gemeldeten) gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die Fahreignung.
- Meldung der IV-Stelle trotz ihrer IV-Verneinung
- Sollte die IV-Stelle die Invalidität verneinen, ist es denkbar, dass der betroffenen Person die Fahreignung abgesprochen werden muss.
Erstellte Fahrfähigkeit
- Wiedererteilung
- Ist die betroffene Person trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen fahrfähig, wird ihr der Führerausweis wieder erteilt.
- Kosten zu Lasten des Betroffenen
- Aufgrund von ATSG 78 (Gesetzeswortlaut siehe unten) hat die IV-Stelle dem Betroffenen die von ihr verursachten Kosten nicht zu ersetzen.
Fahrunfähigkeit
- Erweist sich eine Fahrunfähigkeit des Betroffenen, wird ihm der Führerausweis definitiv entzogen.
Führerausweisentzug führt nicht zur Gewährung von IV-Leistungen
- Der IV-meldungsbedingte Entzug des Führerausweises hat keinen Einfluss auf die Zusprechung von Versicherungsleistungen oder einer Invalidenrente.
Getrennte Verfahrenszuständigkeiten können zu paradoxer Situation führen
- Es kann folgende paradoxe Situation entstehen:
- Verkehrsmediziner
- Qualifikation des Betroffenen als fahrunfähig.
- IV-Vertrauensarzt
- Qualifikation des Betroffenen als arbeitsfähig.
- Verkehrsmediziner
- Es stellt sich dann die Frage, weshalb die medizinische Beurteilung zu einem solchen Widerspruch führen kann:
- Fahrunfähigkeit: ja.
- Arbeitsunfähigkeit: nein.
- Vgl. auch BGer 1C_405/2022 vom 05.12.2022, Erw. 5.4.2., Abs. 2
Hinweis der IV-Stelle
- Laut Medienberichten gibt es IV-Stellen, die die Antragsteller einer Invalidenrente darauf hinweisen, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen eine Meldung an das Strassenverkehrsamt zur Folge haben können, falls am IV-Antrag festgehalten werde.
Rechtsprechung
Einen Überblick über den Verlauf einer Meldung der IV-Stelle an die Strassenverkehrsbehörde und über den Eintritt einer paradoxen Situation bildet das Bundesgerichtsurteil BGer 1C_405/2022 vom 05.12.2022:
BGer 1C_405/2022 vom 05.12.2022
Quelle: bger.ch
Fazit
Es ist IV-Antragstellern zu empfehlen, vor der Stellung eines IV-Gesuches eine Gesamtview ihrer Verhältnisse vorzunehmen, auch in Bezug auf die Fahrerlaubnis, und – vorgängig – alle Vor- und Nachteile abzuwägen.
Art. 78 ATSG Verantwortlichkeit
1 Für Schäden, die von Durchführungsorganen oder einzelnen Funktionären von Versicherungsträgern einer versicherten Person oder Dritten widerrechtlich zugefügt wurden, haften die öffentlichen Körperschaften, privaten Trägerorganisationen oder Versicherungsträger, die für diese Organe verantwortlich sind.
2 Die zuständige Behörde entscheidet durch Verfügung über Ersatzforderungen.
3 Die subsidiäre Haftung des Bundes für ausserhalb der ordentlichen Bundesverwaltung stehende Organisationen richtet sich nach Artikel 19 des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958.
4 Für die Verfahren nach den Absätzen 1 und 3 gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes. Ein Einspracheverfahren wird nicht durchgeführt. Die Artikel 3–9, 11, 12, 20 Absatz 1, 21 und 23 des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 sind sinngemäss anwendbar.
5 Personen, die als Organe oder Funktionäre eines Versicherungsträgers, einer Revisions- oder Kontrollstelle handeln oder denen durch die Einzelgesetze bestimmte Aufgaben übertragen wurden, unterliegen der gleichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit wie Behördemitglieder und Beamte nach dem Strafgesetzbuch.
Quelle
LawMedia Redaktionsteam
Bildquelle: aargauerzeitung.ch