OR 418u – culpa in contrahendo bei Verhandlungen zu Erneuerung eines Exklusiv-Vertriebsvertrages?
Einleitung
Unter Umständen kann sich die Partei eines bestehenden Vertriebsvertrages haftbar machen, wenn sie die Vertragsverhandlungen zur Erneuerung des Vertriebsverhältnisses abbricht.
Das Bundesgericht hatte sich in 4A_71/2019 vom 08.10.2019 mit den Voraussetzungen einer solchen Haftung zu befassen.
Der Bundesgerichtsentscheid enthält nennenswert Ausführungen zum Bestehen oder Nichtbestehen einer Haftung wegen der Verletzung vorvertraglicher Pflichten beim gescheiterten Vertragsschluss zur Erneuerung eines Vertriebsvertrages.
Sachverhalt
Eine griechische Distributorin hatte 1999 mit einer Lieferantin einen ersten Alleinvertriebsvertrag auf 7 Jahre geschlossen, welcher den Vertrieb von Babynahrung im griechischen Markt zum Gegenstand hatte.
Dieser erste Alleinvertriebsvertrag wurde 2007 durch einen neuen Alleinvertriebsvertrag mit einer Laufzeit von fünf Jahren abgelöst.
2010 beabsichtigten die Parteien, Verhandlungen über den Abschluss eines dritten Vertriebsvertrages, welcher 2011 hätte in Kraft treten sollen, aufzunehmen.
Im April 2011 starten die Vertragsverhandlungen. Die Lieferantin liess im Mai 2011 der Distributorin einen ersten Vertragsentwurf zukommen. Die Parteien konnten sich in einigen Punkten nicht einigen, weshalb die Gespräche weitergingen. Im September 2011 und im Dezember 2011 stellte die Lieferantin der Distributorin revidierte Vertragsentwürfe zu.
Die Distributorin teilte der Lieferantin mit, dass die Entwürfe nicht akzeptiert werden könnten. Die Differenzen bezogen sich insbesondere auf:
- Den Nachweis des Marketingaufwandes der Distributorin gegenüber der Lieferantin, welcher im Verlaufe des Vertriebsverhältnisses über Rückvergütungen letztlich von der Lieferantin zu tragen gewesen wäre.
Da die Meinungsdifferenzen nicht ausgeräumt werden konnten, teilte die Lieferantin der Distributorin im März 2012 mit, dass das Vertriebsverhältnis nicht erneuert werde und es daher mit Ablauf des zweiten Alleinvertriebsvertrages, d.h. im Mai 2012, zu Ende gehe.
Im Mai 2012 schloss die Lieferantin einen Alleinvertriebsvertrag mit einer Konkurrentin der ehemaligen Distributorin. Die Vertragsverhandlungen mit dem neuen Vertragspartner hatten im März bzw. April 2012 begonnen. Der Inhalt des Vertrages mit der Konkurrentin war praktisch identisch mit dem Entwurf, welcher den die Lieferantin seiner früheren Distributorin vorgeschlagen hatte.
Prozess-History
- Klage der ehemaligen Distributorin gegen die Lieferantin auf Zahlung von rund EUR 4.25 Mio. (Kundschaftsentschädigung von ca. EUR 1.45 Mio.) und Schadenersatz wegen Verletzung vorvertraglicher Pflichten von ca. EUR 2.8 Mio., wobei letzterer mit Marketingkosten begründet wurde, die die Distributorin im Hinblick auf den nicht zustande gekommenen dritten Vertriebsvertrag eingegangen war
- Abweisung der Klage durch die erste Instanz
- Abweisung der Berufung durch das Genfer Cour de justice (vgl. Urteil C/21380/2012 ACJC/1666/2018vom 27. November 2019)
- Rechtsmittel ans Bundesgericht
Erwägungen
Das Bundesgericht erwog im konkreten Fall zusammengefasst folgendes:
Haftung aus Vertragsverhandlungsabbruch im Allgemeinen
- Grundsatz der Vertragsfreiheit
- Freiheit jeder Person, in Vertragsverhandlungen zu treten und diese auch wieder abzubrechen
- Keine Rechtfertigung des Vertragsverhandlungsabbruchs
- Freiheit jeder Person, in Vertragsverhandlungen zu treten und diese auch wieder abzubrechen
- Rechtsnatur
- Rechtliche Sonderverbindung der Parteien, ab dem Moment, in welchem sie Vertragsverhandlungen aufnehmen
- Schranken
- Pflicht, nach Treu und Glauben zu handeln (vgl. ZGB 2 Abs. 1)
- Pflicht, ernsthaft und in Übereinstimmung mit ihren tatsächlichen Absichten zu verhandeln
- Pflicht der Verhandlungspartei, bei der anderen Partei nicht entgegen der eigenen Absicht Hoffnung zu schüren, dass es zu einem Vertragsschluss kommen werde
- Vertragsabschlusswille darf nicht stärker dargestellt werden, als er in Tat und Wahrheit ist
- Haftung?
- Grundsatz
- Eine Verhandlungspartei, welche in Verletzung der hievor erwähnten rechtlichen Vorgaben Vertragsverhandlungen abbricht und damit ein Verschulden begründet (culpa in contrahendo), kann sich gegenüber der anderen Partei haftbar machen
- Einschränkung
- Ein derartiges haftungsbegründendes Verschulden besteht aber nur in Ausnahmefällen
- Haftungsirrelevanzen
- Verhandlungsdauer
- Ein lange Vertragsverhandlungsdauer braucht nicht haftungsbegründend zu sein
- Verhandlungsaufwendungen
- Kenntnis kostspieliger Verhandlungsinvestitionen einer Partei ist für Verhandlungsabbruch nicht relevant
- Dispositionen aus eigenem Risiko
- Dispositionen einer Partei im Hinblick auf den Vertragsschluss erfolgt auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten
- Treuwidrigkeit
- Treuwidrig wäre einzig, wenn die andere Partei (zu lange) in der Überzeugung belassen wird, der Vertrag komme sicherlich zum Abschluss, oder die Nichtausräumung einer erkannten Illusion bei der anderen Partei.
- Verhandlungsdauer
- Grundsatz
Keine Verhandlungshaftung der Lieferantin im konkreten Fall
In casu erwog das Bundesgericht:
- Lieferantin gab zu Verhandlungsbeginn gegenüber der Distributorin zu erkennen, dass für sie die umstrittene vertragliche Regelung betreffend Aufwand der Marketingaktivitäten nicht bloss von untergeordneter Bedeutung sei
- Lieferantin war nicht verpflichtet, der Distributorin ausdrücklich mitzuteilen, dass es sich bei der Klärung der Marketingaufwand-Tragung um eine unabdingbare Voraussetzung (sog. „conditio sine qua non“) für den Abschluss des dritten Vertriebsvertrages handle
- Keine Anerkennung des Arguments der Distributorin, dass sie bereits während den Vertragsverhandlungen Investitionen von (behaupteten) EUR 2.8 Mio. in den noch abzuschliessenden Vertriebsvertrag tätigte
- Derartige Investitionen erfolgen auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten der betreffenden Partei
- Keine Folgen der Kenntnis der Lieferantin über die von der Distributorin getätigten Investitionen durch laufende Information
- Keine Wirkung des Arguments der Distributorin, dass die Parteien bereits seit längerer Zeit durch den ersten und den zweiten Vertriebsvertrag gebunden waren
- Entscheidend war nicht, ob die Parteien bereits gebunden waren, sondern, ob diejenige Partei, die die Vertragsverhandlungen abbrach, durch ihr Verhalten die Gegenpartei im Glauben liess, dass es sicherlich zu einem Vertragsabschluss kommen würde
- Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall
- Die die Vertragsverhandlungen abbrechende Lieferantin traf somit kein Verschulden.
Aus alle dem kann gemäss Bundesgericht keine „culpa in contrahendo“ hergeleitet werden.
Ausgangsgemäss war daher der Intervention der Distributorin vor Bundesgericht kein Erfolg beschieden.
Entscheid
- Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
- Das Rechtsmittel in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
- Rechtskosten in Höhe von CHF 25’000 gehen zu Lasten der Beschwerdeführerin.
- Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin eine Entschädigung von CHF 27’000 zu bezahlen.
- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Gerichtshof des Kantons Genf, Zivilkammer, mitgeteilt.
Quelle
BGE 4A_71/2019 vom 08.10.2019