Einleitung
Die Tagespressen titeln derzeit vermehrt von globalen Fabrikations- und Lieferengpässen. Nicht nur die Automobilbranche ist stark betroffen, auch der Schweizer Schuhhersteller «ON» – wie auch Nike, Puma und Adidas – meldete vor wenigen Tagen, dass die Produktionsstätten in Vietnam aufgrund der Corona-Pandemie über mehrere Wochen stillgelegt werden mussten und die Kunden deshalb mit Lieferverzögerungen zu rechnen hätten.
Lieferverzögerung als antizipierter Vertragsbruch
Nicht jede Lieferverzögerung seitens des Leistungsschuldners (Verkäufer, Lieferant oder Produzent) stellt dagegen einen antizipierten Vertragsbruch dar und zieht nachfolgend erläuterte Rechtsfolgen nach sich. Deshalb ist vorab zu unterscheiden, ob es sich beim Handeln des Schuldners um eine endgültige Erfüllungsverweigerung oder eine offensichtliche Erfüllungsgefährdung handelt.
Endgültige Erfüllungsverweigerung
- Der Schuldner erklärt, die vertragliche Leistung nicht erfüllen zu wollen.
- Die Erfüllungsverweigerung muss eine gewisse Intensität aufweisen, was bedeutet, dass dem Gläubiger (Kunde oder Abnehmer) im Wesentlichen das entgeht, was er nach dem Vertrag erwarten durfte.
- Sofern grundsätzlich eine Erfüllungsverweigerung vorliegt, ist herauszufinden, ob der Gläubiger den durch die Verweigerung veränderten Vertrag ebenfalls eingegangen wäre (= hypothetischer Parteiwille). Erst wenn dies bejaht werden kann, liegt die notwendige Intensität der Erfüllungsverweigerung vor.
- Bei Ankündigung der Erfüllungsschwierigkeiten seitens des Schuldners muss mittels Auslegung der gemachten Erklärung ermittelt werden, ob diese einer endgültigen Erfüllungsverweigerung gleichkommt oder der Erfüllungswille seitens des Schuldners weiterbesteht.
- Zeigt der Schuldner namentlich einen nachträglichen Verhandlungswillen oder verlangt er nach einer Änderung der Erfüllungsmodalitäten, kann regelmässig nicht von einer Erfüllungsverweigerung ausgegangen werden.
Offensichtliche Erfüllungsgefährdung
- Erfüllungsgefährdung bedeutet, dass der Gläubiger davon ausgehen muss, dass ihm die vertraglich vereinbarte Leistung im Wesentlichen entgehen wird.
- Bestehen bereits vor Fälligkeit der Leistung ernsthafte Zweifel an der vertragsgemässen Erfüllung durch den Schuldner, kann der Gläubiger vom Schuldner unter Ansetzung einer Frist und Darlegung der Gründe für seine Zweifel eine Erklärung über dessen Erfüllungsbereitschaft verlangen.
- Bleiben beim Gläubiger die Zweifel nach diesem Vorgehen trotzdem bestehen, kann dieser die nachfolgenden Rechtsfolgen der antizipierten Vertragsverletzung ergreifen.
Rechtsfolgen
Der Gläubiger hat bei Vorliegen einer antizipierten Vertragsverletzung die Möglichkeit, analog des Schuldnerverzugs vorzugehen und die Wahlrechte von Art. 107 Abs. 2 OR auszuüben. Er muss dabei wie folgt vorgehen:
- Ansetzen einer angemessenen Nachfrist zur Erfüllung (Art. 107 Abs. 1 OR)
- Gemäss Art. 108 OR muss keine Nachfrist angesetzt werden, wenn…
- aus dem Verhalten des Schuldners hervorgeht, dass sie sich als unnütz erweisen würde,
- infolge Verzuges des Schuldners die Leistung für den Gläubiger nutzlos geworden ist oder
- wenn sich aus dem Vertrage die Absicht der Parteien ergibt, dass die Leistung genau zu einer bestimmten oder bis zu einer bestimmten Zeit erfolgen soll.
- Ausüben der Wahlrechte nach ungenutztem Ablauf der Nachfrist (Art. 107 Abs. 2 OR)
- Festhalten an der Leistung und Klage auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung oder
- Verzicht auf die nachträgliche Lieferung und
- Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens (sog. positives Vertragsinteresse) oder
- Rücktritt vom Vertrag und Ersatz des aus dem Dahinfallen des Vertrages erwachsenen Schadens (sog. negatives Vertragsinteresse), sofern den Schuldner ein Verschulden trifft
Die Leistungspflicht seitens des Schuldners erlischt erst, wenn der Gläubiger seinerseits den Leistungsverzicht erklärt. Andernfalls bleibt diese bestehen, weshalb im Falle des Festhaltens an der Leistung durch den Gläubiger auch dieser zur Erfüllung der vereinbarten Gegenleistung verpflichtet bleibt.
Ein Verzicht auf die Leistung und die Geltendmachung des positiven Vertragsinteresses ist beim antizipierten Vertragsbruch bereits vor Eintritt der Fälligkeit möglich.
Praxisrelevante Überlegungen
Im Zusammenhang mit einer allfälligen den Leistungsschuldner treffenden Schadenersatzpflicht stellt sich in der Praxis die Frage, wie er den Gläubiger über eine eingetretene Lieferverzögerung bestmöglich informieren soll. Allenfalls kann bei auftretenden Lieferengpässen eine frühzeitige Kontaktaufnahme mit der Gegenpartei angezeigt sein, wobei dieses Vorgehen aber auch die Gefahr birgt, dass der Gläubiger die Gelegenheit bereits zum Vertragsrücktritt nutzt, was regelmässig nicht im Interesse des Schuldners liegen dürfte.
Bei der Abfassung der Mitteilung an den Gläubiger darf der Schuldner seine eigenen Interessen aber durchaus in den Vordergrund stellen und kann damit allenfalls sogar das Handeln des Gläubigers in Bezug auf die Ausübung seiner Wahlrechte etwas beeinflussen. Er sollte jedoch bei der Formulierung beachten, wie der Gläubiger die Mitteilung versteht und verstehen darf, um sicherzugehen, dass seine Mitteilung von diesem nicht als endgültige Erfüllungsverweigerung oder offensichtliche Erfüllungsgefährdung interpretiert wird.
Gleichzeitig muss der Gläubiger bei der Ausübung seiner Wahlrechte nach Art. 107 Abs. 2 OR die entsprechenden Folgen genau abwägen. So kann sich ein Vertragsrücktritt je nach Sachverhalt einerseits vorteilhaft erweisen, andererseits aber auch zusätzliche Umstände bereiten, etwa weil aufgrund der momentan global herrschenden Lieferengpässe auch die Beschaffung allfälliger Substitutionsgüter erschwert sein dürfte. Folglich könnte es sich für den Gläubiger deshalb durchaus als effizienter erweisen, am Vertrag sowie der Erfüllung festzuhalten. Sodann hätte der Schuldner für den entstandenen Verspätungsschaden aufzukommen, welcher in der aus den oben genannten deutlich höher als bei gewöhnlichen Lieferverzögerungen ausfallen dürfte.
Sollten sich die Vertragsparteien dagegen auf einen neuen Liefertermin oder anderweitig angepasste Vertragsmodalitäten einigen, wäre im Falle eines schriftlich vereinbarten Vertrages dieser entsprechend anzupassen.