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Vertrag / Vertragsrecht

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Exkurs: Antizipierter Vertragsbruch

Rechtsgebiet:
Vertrag / Vertragsrecht
Stichworte:
Vertragsrecht
Autor:
Bürgi Nägeli Rechtsanwälte
Herausgeber:
Verlag:
LAWMEDIA AG

Der allgemeine Teil des Schweizerischen Obligationenrechts (AT) definiert weder den Tatbestand, noch die Rechtsfolgen des sog. „antizipierten Vertragsbruchs“.

Der Tatbestand der „antizipierten Vertragsbruchs“ ist im Schweizerischen Recht in zwei Varianten anzutreffen.

  • Endgültige Erfüllungsverweigerung
  • Offensichtliche Erfüllungsgefährdung

Es liegt eine unzumutbare Bindung an den Vertrag vor, wenn das Ausbleiben der vertragsgemässen Erfüllung durch die Gegenpartei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.

Die Einzelheiten:

Begriffe

  • Endgültige Erfüllungsverweigerung   =   Vor Fälligkeitszeitpunkt bekanntgewordene Erklärung des Schuldner, dass er nicht zur vertragsgemässen Erfüllung schreiten wird
  • Offensichtliche Erfüllungsgefährdung   =   die vertragsgemässe Erfüllung erscheint aufgrund objektiver Anzeichen bereits vor dem Fälligkeitstermin als ausgeschlossen

Grundlagen

  • Fehlende Normierung
  • Anerkennung des Tatbestands durch Lehre und Rechtsprechung aufgrund der Wertung des Gesetzgebers in:
    • OR 108 Ziffer 1
    • OR 366 Abs. 1

Tatbestand

  • Tatbestandselemente

    • Endgültige Erfüllungsverweigerung
      • Erfüllungsverweigerung
        • Pflichtwidrige Kundgabe der mangelnden Fähigkeit oder des fehlenden Schuldnerwillens zur vertragsgemässen Erfüllung
        • Rechtsgeschäftliche Willensäusserung, deren Anknüpfung das Schuldner-Verhalten ist, von gewisser Intensität, damit sie zum vorzeitigen Vertragsrücktritt berechtigt
      • Endgültigkeit
        • Die Endgültigkeits-Voraussetzung ist nur gegeben, wenn der Gläubiger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen muss, die Erfüllungsverweigerung habe während der dem Schuldner zur verfügenden Erfüllungszeit Bestand
    • Offensichtliche Erfüllungsgefährdung
      • Erfüllungsgefährdung
        • Die Erfüllungsgefährdung setzt voraus, dass der Gläubiger in guten Treuen davon ausgehen muss, ihm werde aufgrund objektiver Umstände im Wesentlichen entgehen, was er nach dem Vertrag erwarten durfte
      • Offensichtlichkeit
        • Die Offensichtlichkeit umschreibt den Grundsatz, wonach nicht jede Erfüllungsgefährdung den Tatbestand des antizipierten Vertragsbruchs erfüllt, weil die Erfüllungsgefährdung die dem Schuldner zur Verfügung stehende Erfüllungszeit mit annähernder Sicherheit überdauert
  • Bloss ernsthafte Zweifel

    • Bestehen bloss ernsthafte Zweifel an der vertragsgemässen Erfüllung durch den Schuldner, ohne dass die Erfüllungsverweigerung oder die Erfüllungsgefährdung mit annähernder Sicherheit besteht, muss der Gläubiger nicht zwingend den Erfüllungszweitpunkt abwarten, sondern kann dem Schuldner
      • eine Frist zur Erklärung über dessen Erfüllungsbereitschaft ansetzen;
      • die Gründe für die ernsthafte Befürchtung des Ausbleibens der vertragsgemässen Erfüllung darlegen;
      • fakultativ: Hinweis auf die möglichen Rechtsfolgen im Falle eines fehlenden Bekenntnisses zur Vertragserfüllung.
    • Gesamtwürdigung nach (unbenutztem) Fristablauf
      • Prüfung, ob nach einer Gesamtwürdigung von einer Erfüllungsweigerung oder eine Erfüllungsgefährdung ausgegangen werden kann.
      • Kann in guten Treuen mit annähernder Sicherheit von einer Erfüllungsverweigerung und / oder eine Erfüllungsgefährdung ausgegangen werden, kann sich der Gläubiger auf einen antizipierten Vertragsbruch berufen.
  • Typische (vier) Fallgruppen

    • Zum Tatbestand des antizipierten Vertragsbruch sind verschiedene Fallgruppen denkbar:
      • Ankündigung von Erfüllungsschwierigkeiten durch den Lieferungs-Schuldner
        • Auslegung der Ankündigung, ob diese eine endgültige Erfüllungsweigerung beinhaltet
      • Ankündigung eines nachträglichen Verhandlungswillens des Lieferungs-Schuldners oder einer Aufforderung zur Änderung der Erfüllungsmodalitäten
        • Auslegung der Erklärungen, ob das Erklärungsverhalten des Lieferungs-Schuldners eine endgültige Erfüllungsverweigerung beinhaltet
      • Irrtum des Lieferungs-Schuldners über die Sach- oder Rechtslage
        • Auslegung des Standpunkts des Lieferungs-Schuldners, ob sein Verhalten eine endgültige Erfüllungsverweigerung darstellt
      • Zahlungsunfähigkeit des Lieferungs-Schuldners und Eröffnung des Nachlass- oder Konkursverfahrens über diesen
        • Die Zahlungsunfähigkeit des Lieferungs-Schuldners beeinflusst in aller Regel dessen Leistungsfähigkeit (Indiz)
          • OR 83 normiert mithin einen Spezialfall der antizipierten Vertragsbruchs
          • Entscheidend ist, ob Konkurs- oder nachlassverfahren bereits eröffnet sind, weil ansonsten das Entscheidungsrecht der Zwangsvollstreckungsorgane greift (SchKG 211 etc.)
        • Wahlrecht des Gläubigers

Abgrenzung von anderen Rechtsinstrumenten

Rechtsnatur

  • Im Allgemeinen gilt der antizipierte Vertragsbruch als
    • Nebenpflichtverletzung.
  • Im Besonderen wird der antizipierte Vertragsbruch als Anwendungsfall der Leistungsstörungskategorie eingestuft, als
    • nicht gehörige Erfüllung.

Rechtsfolgen

  • Analoge Anwendung des Wahlrechts von OR 107 Abs. 2

    • Gemäss Lehre und Rechtsprechung kann der Gläubiger infolge des antizipierten Vertragsbruchs ohne weitere Fristansetzung bereits vor dem Fälligkeitszeitpunkt der schuldorischen Leistung von den in Art. 107 Abs. 2 OR normierten Wahlrechten Gebrauch machen.
    • Dem Gläubiger stehen daher vor dem Fälligkeitszeitpunkt alle in OR 107 Abs. 2 postulierten Rechtsbehelfe offen, nämlich:
      • Festhalten am Vertrag
      • Erklärung des vorzeitigen Rücktritts und vom Lieferungsschuldner den Ersatz des negativen Vertragsinteresses verlangen
      • Verzicht auf die Realerfüllung des Lieferungsschuldners und diesen für das positive Vertragsinteresse haftbar machen
    • Die Wahlrechtsausübung ist grundsätzlich den Regeln für Gestaltungsgeschäfte unterworfen.
    • Nach Ansicht von MÜLLER SEBASTIAN, Antizipierter Vertragsbruch, Zürich/Basel/Genf, 2021, N 278 ff., besteht kein Erfordernis eines unverzüglichen Leistungsverzichts, da keine Spekulationsgefahr zu Lasten des Leistungsschuldners besteht und da der Schuldner kein schützenswertes Interesse an einer klaren Rechtslage hat.
  • Ablehnung der Anwendung von OR 97 Abs. 1

    • Lehre und Rechtsprechung lehnen demgegenüber – obwohl der antizipierte Vertragsbruch ein Anwendungsfall der nicht gehörigen Erfüllung darstellt – die Anwendung von OR 97 Abs. 1 bei den Rechtsfolgen ab
  • Keine Änderung der Erfüllungsmodalitäten

    • Der antizipierte Vertragsbruch führt zu keiner Änderung der verabredeten Erfüllungsmodalitäten.
  • Fortbestehende Leistungspflicht

    • Die Leistungspflicht des Lieferungsschuldners bleibt bis zum allf. Leistungsverzicht des Gläubigers bestehen, weshalb er vom Schuldner die von diesem versprochene Leistung einfordern kann.
  • Festhalten an der Erfüllungspflicht durch Gläubiger

    • Will der Gläubiger an der Erfüllungspflicht des Schuldners festhalten, bleibt er weiterhin zur Erfüllung seiner Gegenleistung verpflichtet.
  • Allf. Vorleistungspflicht des Gläubigers + OR 82

    • Ist der Gläubiger vorleistungspflichtig, wird er aufgrund des antizipierten Vertragsbruchs von seiner Vorleistungspflicht befreit (OR 82 per analogia), ansonsten er zu einer nicht zumutbaren Kreditierung gezwungen würde.
  • Keine Haftung für Zufall, Verspätungsschaden und Verzugszinsen

    • Bis zum Fälligkeitszeitpunkt haftet der Leistungsschuldner mangels einer pflichtwidrigen Erfüllungsverspätung nicht für:
      • Zufall
      • Verspätungsschaden
      • Verzugszinsen.
  • Festhalten an der Realerfüllung

    • Besteht der Gläubiger auf der Realerfüllung durch den Schuldner, ist bereits vor dem Fälligkeitszeitpunkt befugt zu ergreifen:
      • Zivilprozessuale Mittel gegen den Schuldner.
    • Da eine Einklagung der Realerfüllungspflicht des Schuldners den den antizipierten Vertragsbruch nicht geändert wird, können erst auf den Fälligkeitszeitpunkt hin Wirkungen entfalten:
      • Leistungsklage-Gutheissung
      • Gutheissung eines Gesuchs um Erlass vorsorglicher Massnahmen
      • Allfällige Vollstreckung.

Für den Schuldnerverzug gemäss OR 102 ff. und das Rücktrittsrecht gemäss OR 97 Abs. 1 sei, sofern und soweit sie den antizipierten Vertragsbruch betreffen, auf die Contents dieser Infowebsite verwiesen.

Fazit

  • Oft wird der antizipierte Vertragsbruch mit dem vorzeitigen Rücktrittsrecht des Gläubigers assoziiert; dies greift aber zu wenig weit.
  • Der antizipierte Vertragsbruch ermöglicht jedoch
    • vor Eintritt des Fälligkeitstermins
    • alle in OR 107 postulierten Wahlrechte zu nutzen, wie
      • 1) Erklärung des vorzeitigen Rücktritts vom Vertrag oder
      • 2) Beanspruchung von Schadenersatz im Umfange des negativen Interesses oder
      • 3) Verzicht auf die Leistung des Schuldners und Geltendmachung des positiven Interesses.
  • Es empfiehlt sich daher, nicht ohne weitere Abklärung vorzeitig vom Vertrag zurückzutreten, sondern zu prüfen, welches der drei Wahlrechte im konkreten Fall für den Gläubiger optimal ist; die Ersatzbeschaffung darf nicht ausser acht gelassen werden.

Literatur

  • MÜLLER SEBSTIAN, Antizipierter Vertragsbruch, Zürich / Basel / Genf 2021
  • BISCHOFF JACQUES, Vertragsrisiko und clausula rebus sic stantibus, Risikozuweisung in Verträgen bei ver­änderten Verhältnissen, Zürich 1983.
  • BURRI CHRISTOF, Tendenzen zur Stabilisierung des Schuldvertrags, Regeln und Entwicklungen, die das Zustandekommen, die Gültigkeit und die Fortdauer des Vertrages begünstigen, Zürich 2010
  • DECURTINS CARL, Die Erfüllungsverweigerung vor Fälligkeit im System der Vertragsverletzungen des Schweizerischen Obligationenrechts, Zürich 1956
  • SCHENKER FRANZ, Die Voraussetzungen und die Folgen des Schuldnerverzugs im Schweizerischen Obligationenrecht, Übersicht, Würdigung und Kritik, Freiburg 1988

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