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Unregelmässige (Vollzeit-)Beschäftigung mit Lohnschwankungen: Kein Grund für ein Abweichen vom Ferienabgeltungsverbot

Datum:
09.03.2023
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Ferienanspruch
Thema:
Ferienabgeltungsverbot
Stichworte:
Ferienabgeltungsverbot, Ferienanspruch, Ferienlohn, Ferienlohnabgeltung, Geldsorgen, Kündigung, Vollzeitbeschäftigung
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

OR 329d Abs. 2 – Praxispräzisierung

Sachverhalt

«B.________ (Arbeitnehmerin, Klägerin, Beschwerdegegnerin) wurde per 1. September 2003 bei der A.________ AG (Arbeitgeberin, Beklagte, Beschwerdeführerin) als Betriebsarbeiterin Verpackung in einem Pensum von 100 % angestellt. Der Arbeitsvertrag sah eine Arbeitszeit von 45 Stunden pro Woche sowie einen Stundenlohn von Fr. 18.– brutto zuzüglich einer Ferienentschädigung von 8.33 % bzw. ab Januar 2019 von 10.64 % vor.

Am 16. März 2020 ordnete die Arbeitgeberin ihren Mitarbeitern aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie gestützt auf die entsprechende Notverordnung des Bundesrates Zwangsferien an. Mittels Einschreiben vom 18. Juni 2020 kündigte sie sodann das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin per 30. September 2020 aus Gründen der Reorganisation und der Neuausrichtung der betrieblichen Abteilungen.»

Prozess-History

  • Zivilkreisgericht Basel-Landschaft
    • Nach erfolglosem Schlichtungsversuch beantragte die Arbeitnehmerin dem Zivilkreisgericht Basel-Landschaft West (nach im Verfahrensverlauf erfolgter Klageänderung) die Verurteilung der Arbeitgeberin zur Bezahlung von Fr. 1’518.– zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 6. April 2020 (Ersatzzahlung für die Dauer der Krankheit in Höhe der entgangenen Taggelder), Fr. 6’845.10 zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 20. Juni 2020 (Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung), Fr. 17’340.70 unter Abführung der gesetzlich geschuldeten Sozialbeiträge zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 1. September 2017 (Ferienentschädigung) sowie Fr. 230.– unter Abführung der gesetzlich geschuldeten Sozialbeiträge zuzüglich Zins seit dem 1. September 2017 (Feiertagsentschädigung).
  • GP des Zivilgerichts
    • Mit Entscheid vom 5. November 2021 hiess der Gerichtspräsident des Zivilkreisgerichts die Klage teilweise gut und verurteilte die Arbeitgeberin, der Arbeitnehmerin Fr. 1’518.– brutto, Fr. 17’340.70 brutto sowie Fr. 230.– brutto nebst Zins zu 5 % seit dem 2. März 2021 zu bezahlen und von diesen Beträgen jeweils die gesetzlichen Sozialabzüge abzuführen.
  • Kantonsgericht Basel-Landschaft
    • Mit Entscheid vom 10. Mai 2022 wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft eine von der Arbeitgeberin gegen den Entscheid des Gerichtspräsidenten des Zivilkreisgerichts vom 5. November 2021 erhobene Berufung ab (Dispositiv-Ziffer 1) und verpflichtete sie zur Zahlung einer Parteientschädigung (Dispositiv-Ziffer 2).
  • Bundesgericht
    • Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Arbeitgeberin dem Bundesgericht, es seien Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des Entscheids des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 10. Mai 2022 aufzuheben und es sei die Klage mit Bezug auf die geltend gemachte Ferienentschädigung von Fr. 17’340.70 abzuweisen.
    • Eventualiter sei das Verfahren zu neuer Beurteilung mit Bezug auf die geltend gemachte Ferienentschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen des Bundesgerichts

Hinsichtlich des strittigen Hauptpunkts, d.h. der Frage, ob die Vorinstanz OR 329d verletzt habe, indem sie die (Vollzeit-)Beschäftigung der Beschwerdegegnerin nicht als unregelmässig im Sinne der Rechtsprechung qualifizierte und der Arbeitnehmerin eine Ferienentschädigung von Fr. 17’340.70 brutto nebst Zins zusprach, erwog das Bundesgericht (BGer) folgendes:

  • Zwingende Bestimmung von OR 329d als Grundlage
    • Die zwingende Norm von OR 329d will sicherstellen, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt, in dem er die Ferien tatsächlich bezieht, auch über das notwendige Geld verfügt, um diese sorgenfrei verbringen zu können.
  • Ferien = Erholung ohne Geldsorgen
    • Prinzip
      • Es soll dem Arbeitnehmer ermöglicht werden, sich zu erholen, ohne durch den Lohnausfall davon abgehalten zu werden.
    • Ferienbezugszeitpunkt als Ferienlohnauszahlung
      • Der Ferienlohn ist daher grundsätzlich dann auszubezahlen, wenn die Ferien effektiv bezogen werden.
  • Zurückhaltende Anwendung einer Ausnahme
    • Aufgrund des eindeutigen Wortlauts der zwingenden Norm von OR 329d darf ein Ausnahmefall,
      • in welchem der Ferienlohn auch schon laufend mit dem Lohn ausgerichtet werden kann,
        • mit Blick auf den Schutzgedanken dieser Norm,
          • nur äusserst zurückhaltend angenommen werden.
  • Ausnahmevoraussetzung der unüberwindbaren Schwierigkeiten
    • Prinzip
      • Für die Annahme eines Ausnahmefalls müssen unüberwindbare Schwierigkeiten vorliegen,
        • welche eine Auszahlung während der Ferien als praktisch nicht durchführbar erscheinen lassen.
    • Anwendungsfälle
      • Als Anwendungsfälle sind denkbar:
        • gewisse Fälle von Teilzeitarbeit
        • bei verschiedenen Arbeitgebern
  • Subsumption des konkreten Sachverhalts
    • Vollzeitbeschäftigung beim gleichen Arbeitgeber
      • Arbeitet der Arbeitnehmer – wie im zu beurteilenden Fall – zu 100 % für denselben Arbeitgeber,
        • ist nicht einzusehen,
          • welche unüberwindbaren Schwierigkeiten aufgrund von monatlichen Schwankungen der Arbeitszeit für eine Auszahlung des Lohns während der Ferien bestehen sollen.
    • Bundesgerichtliche Rechtsprechung
      • Das BGer hat bisher in Fällen, welche Vollzeitbeschäftigungen betrafen, betont,
        • dass der variable Charakter des Arbeitslohns für sich allein keine von OR 329d abweichende Vereinbarung rechtfertige,
          • da dies bei Stunden- oder Akkordlohn regelmässig vorkomme.
    • Vorinstanzliche Beurteilung
      • Mit der Vorinstanz erschien dem BGer,
        • im Hinblick auf
          • die heute zur Verfügung stehenden Softwareangebote und
          • die Zeiterfassungssysteme
        • eine dem Gesetz entsprechende Berechnung des Ferienlohns
          • auch bei monatlichen Schwankungen des Lohns
        • nicht mehr als unzumutbar.
  • Alternative Möglichkeit
    • Abgesehen davon könne eine gesetzeskonforme Auszahlung des Ferienlohns auch in der Weise gewährleistet werden,
      • dass der Ferienlohnanteil
        • zwar periodisch mit dem Grundlohn berechnet und ausgewiesen,
        • aber erst beim tatsächlichen Ferienbezug ausbezahlt werde.

Fazit:

Das BGer kam für 100 %-Beschäftigungen bei derselben Arbeitgeberin nun zu folgenden Schlüssen:

  • Die in der Rechtsprechung angeführten praktischen Schwierigkeiten infolge unregelmässiger Arbeitszeiten würden als Rechtfertigung entfallen.
  • Eine Ausnahme vom Grundsatz nach OR 329d Abs. 1 aufgrund monatlicher Schwankungen des geschuldeten Lohns selbst bei Vollzeitbeschäftigungen zuzulassen, würde den Schutzzweck dieser zwingenden Norm aushöhlen.
  • In solchen Fällen sei eine Ausnahme vom klaren Gesetzestext daher unzulässig.

Die Vorinstanz hatte die Beschwerdeführerin daher zu Recht zur Ausrichtung des Ferienlohns verpflichtet. Die Berechnung des konkret zugesprochenen Betrags wurde in der Beschwerde nicht beanstandet.

Entsprechend war die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Aufgrund des Verfahrensausgangs wurde die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (BGG 66 Abs. 1 und BGG 68 Abs. 2).

Entscheid des Bundesgerichts

  1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
  2. Die Gerichtskosten von Fr. 700.– werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
  3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2’500.– zu entschädigen.
  4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivilrecht, schriftlich mitgeteilt.

BGer 4A_357/2022 vom 30.01.2023    =   BGE 149 III 202 ff.

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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