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Verkehrsrecht / Strafrecht

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Rechtsvorbeifahren vs. Rechtsüberholen – Letzteres muss nicht Führerausweisentzug zur Folge haben

Differenzierende Rechtsprechung des Bundesgerichts

Datum:
26.04.2023
Rubrik:
Berichte
Rechtsgebiet:
Verkehrsrecht
Thema:
Rechtsvorbeifahren vs. Rechtsüberholen
Stichworte:
Differenzierende Rechtsprechung, Führerausweisentzug, Rechtsüberholen, Rechtsvorbeifahren
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Einleitung

Seit 01.01.2021 sind diverse neue Verkehrsregeln in Kraft getreten, welche die Sicherheit erhöhen und den Verkehrsablauf flüssiger machen sollten. Dazu zählt auch das sog. «Rechtsvorbeifahren».

Wir berichteten:

Die gesetzliche Grundlage

Das Rechtsvorbeifahren etc. ist geregelt in:

Die Regel von Rechtsvorbeifahren

  • Grundsatz
    • Auf den Autobahnen gilt nach wie vor das Rechtsfahrgebot.
  • Ausnahme
    • Wenn sich auf dem linken (oder bei dreispurigen Autobahnen auf dem linken und/oder mittleren) Fahrstreifen eine Kolonne gebildet hat,
      • dürfen Lenker auf der rechten Spur neu, d.h. seit 01.01.2021, mit der nötigen Vorsicht vorbeifahren,
        • auch wenn sich rechts noch keine Kolonne gebildet hat.
  • Verbot
    • Das Rechtsüberholen (Ausschwenken auf den rechten Fahrstreifen und Wiedereinschwenken nach links) ist hingegen weiterhin verboten und
      • wird mit einer Ordnungsbusse geahndet.

Das Verbot des Rechtsüberholens

Das «Rechtsvorbeifahren» und dann links wieder in die Überholspur einschwenken,

  • gilt als «Rechtsüberholen»;
  • ist verboten (vgl. VRV 36 Abs. 5 Satz 1;
  • wird geahndet (Busse und Führerausweisentzug).

Das YouTube-Video

Das Bundesamt für Strassen ASTRA hat die erlaubten und unerlaubten Vorgänge in einem Video festgehalten:

Die differenzierende Rechtsprechung zum Rechtsüberholen

Das Bundesgericht (BGer) hatte am 03.11.2022 in der Sache 1C_626/2021 einen strittigen Fall (Rechtsüberholen oder Rechtsvorbeifahren? Führerausweisentzug?) zu entscheiden.

Das BGer betonte in seinen Erwägungen, dass die neue Regelung besonders einzusetzen sei:

  • nur unter enger Auslegung
  • nur unter zurückhaltender Anwendung.

Erforderlich sei, dass

  • im Einzelfall
    • unter Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse
      • ein einfaches Rechtsüberholen
        • ohne erschwerende Umstände vorliege.

Für eine Beurteilung müssten daher die gesamten konkreten Verhältnisse berücksichtigt werden,

  • ob das Überholmanöver eine erhöhte abstrakte Gefährdung darstellte.

In concreto erfolgte das Überholmanöver

  • am Tag,
  • bei trockener Strasse,
  • guten Sichtverhältnissen und
  • schwachem Verkehr.

Das BGer kam zum Schluss, dass

  • es keine erschwerenden Hinweise gegeben habe,
  • das Überholmanöver daher unter den neuen Ordnungsbussentatbestand von Anhang 1 Ziff. 314.3 OBV falle und
  • somit unter neuem Recht nicht mehr als grobe Verkehrsverletzung im Sinne von SVG 90 Abs. 2 zu beurteilen sei.

Die Beschwerde des Autolenkers wurde daher gutgeheissen und das angefochtene vorinstanzliche Urteil aufgehoben.

Ergebnis:

  • Das Rechtsüberholen auf der Autobahn oder auf der Autostrasse durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen hat gemäss BGer nicht mehr in jedem Fall ein Führerausweisentzug zur Folge.

Vgl. hiezu auch unsere Gerichtsentscheid-Erläuterung:

Vorsichts- und Legalitätsprinzip

Das Vorsichtsprinzip und das Legalitätsprinzip gebieten es also, beim „Rechtsvorbeifahren“

  • das Tempo zur Vorsicht anzupassen und
  • nicht anschliessend links wieder in die Überholspur einzulenken.

Trotz des differenzierenden Bundesgerichtsurteils sollten Autolenker nicht (permanent) die Grenze von „Rechtsvorbeifahren“ zu „Rechtsüberholen“ ausloten und daran denken, dass die Polizei auch in Zivilfahrzeugen unterwegs ist.

Die erste Beantwortung der Auslegungssache erfolgt nicht erst beim Richter, sondern zuvor bei der Polizei.

Fazit

Gemäss Verordnung ist also in folgenden Fällen ein «Rechtsvorbeifahren» ausdrücklich erlaubt:

  • Bei Kolonnenverkehr auf dem linken oder dem mittleren Fahrbahnstreifen einer Autobahn;
  • bei Einspurstrecken, sofern für die einzelnen Fahrstreifen unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind;
  • falls der links liegende Fahrbahnstreifen mit mindestens einer Sicherheitslinie bzw. einer Doppellinien-Markierung abgegrenzt ist;
  • bei Verzögerungsstreifen vor Ausfahrten.

Ob ein Führerausweisentzug wegen «Rechtsüberholens» erfolgen soll, ist – wie dargestellt – aufgrund der individuell-konkreten Verhältnisse anlässlich des Überholvorgangs abzuklären.

Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung aufgrund dieses Entscheids und des Verkehrsverhaltens der Lenker auf den Autobahnen noch weiter wird differenzieren oder einschränken müssen.

Bildquelle: Darf ich auf der Autobahn rechtsüberholen? Und was, wenn ich nur rechtsvorbeifahre? | bfu.ch

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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