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Erbrecht

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Sittenwidrige Testamente

Datum:
20.04.2023
Rubrik:
Berichte
Rechtsgebiet:
Erbrecht, Testament / Letztwillige Verfügung
Thema:
Sittenwidrige Testamente im Erbrecht
Stichworte:
Erbrecht, Sittenwidrige Testamente, Sittenwidrigkeit, Testamente
Autor:
RA Urs Bürgi und RA Marc Peyer
Herausgeber:
Verlag:
LAWMEDIA AG
von
RA Urs Bürgi, Inhaber des Zürcher Notarpatentes, und
RA Marc Peyer, Fachanwalt SAV Erbrecht

Einleitung

Im erbrechtlichen Praxisalltag wird relativ oft die Beurteilung des Testaments eines Erblassers gewünscht, ob es rechts- und / oder sittenwidrige Inhalte aufweise.

Der Wunschgedanken eines zurückgesetzten Kunden zielt natürlich darauf ab, dass das Testament oder mindestens ein Teilinhalt ungültig oder nichtig ist.

Die nachfolgende Auslegeordnung soll die Sittenwidrigkeit und ihre Anwendungsfälle sowie die Rechtsfolgen aufzeigen.

Sittenwidrigkeit

Vorab ist zu klären, dass die Sittenwidrigkeit sich stets auf den Inhalt eines Testaments bezieht.

Definition

Testamentsinhalte gelten als sittenwidrig, wenn sie verstossen:

  • gegen das allgemeine Anstandsgefühl;
  • gegen die ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe.

Dieser Verstoss kann bestehen:

  • einerseits
    • in der vereinbarten Leistung;
    • oder in dem damit angestrebten mittelbaren Zweck oder Erfolg;
  • oder andererseits
    • im Umstand, dass eine notwendig unentgeltliche Leistung mit einer geldwerten Gegenleistung verknüpft wird (vgl. BGE 123 III 101).

Gesetzliche Grundlage

Der Ungültigkeitstatbestand der Rechts- und / oder Sittenwidrigkeit ist in ZGB 519 Abs. 1 Ziff. 3 geregelt.

Abgrenzung

Die Abgrenzung der Sittenwidrigkeit von der Rechtswidrigkeit ist oft schwierig. Selbst die Rechtsprechung bleibt da manchmal unscharf.

Einerseits mag dies davon herrühren, dass der Sittenwidrigkeit eine gewisse Rechtswidrigkeit immanent ist und, dass die praktische Relevanz einer Unterscheidung nur gering ist.

Gesamtwürdigung

Das zuständige Gericht wird für die Beurteilung, ob das Testament gegen die guten Sitten verstösst, auf den Gesamtcharakter des Testaments abstellen.

Subjektive Begleitumstände

Auch eine Sittenwidrigkeitsprüfung kommt nicht um die Berücksichtigung der subjektiven Begleitumstände im konkreten Einzelfall hin:

  • Zwecke
  • Motive / Beweggründe des Erblassers;
  • etc.

Zu berücksichtigen ist auch das Phänomen, dass bei älteren Personen die Widerstandsfähigkeit gegenüber äusseren Druckversuchen abnimmt.

Das Gericht wird die vorliegenden Umstände zu berücksichtigen haben.

Massgebender Zeitpunkt

Für die Sittenwidrigkeitsentscheidung durch das Gericht sind die im Beurteilungszeitpunkt aktuellen Verhältnisse wesentlich, namentlich:

  • die Gesamtrechtsordnung
    • mit ihren ethischen Prinzipien und
    • mit ihren Wertmassstäben;
  • die aktuell herrschende sittliche Anschauung der Bevölkerung.

Beurteilungszeitpunkt ist dabei grundsätzlich der Zeitpunkt des Todes (Erbgang).

  • Es ist aber zu berücksichtigen, dass ein gesellschaftlicher Wertewandel stattfinden kann.
    • Ein Testament kann im Errichtungszeitpunkt als sittenwidrig gelten, im Zeitpunkt des Todes jedoch infolge gesellschaftlichen Wertewandels nicht mehr; oder umgekehrt.
  • Es kann der Auslegungsgrundsatz „favor testamenti“ zur Anwendung gelangen:
    •  Das Prinzip „favor testamenti“ bedeutet, dass im Zweifel diejenige Testaments-Auslegung den Vorzug erhalten soll, welche die Aufrechterhaltung des Testaments ermöglicht
    • Ein Testament, welches im Zeitpunkt der Errichtung noch nicht als sittenwidrig galt, jedoch (aufgrund gesellschaftlichen Wertewandels) im Zeitpunkt des Erbgangs nunmehr als sittenwidrig zu qualifiziert ist, kann im konkreten Einzelfall dennoch als gültig erachtet werden.

Entwicklung

Aktuell werden immer wieder die Fragen gestellt, ob auch Zuwendungen an Vertrauenspersonen des Erblassers die Ungültigkeitsfolge wegen Sittenwidrigkeit nach sich ziehen können und wenn ja, wo die personelle Schranke liegt.

Sittenwidrige Testamentsinhalte

Allgemein

Ein sittenwidriges Testament liegt dann vor, wenn es verstösst gegen

  • das allgemeine Anstandsgefühl oder
  • die in der Gesamtrechtsordnung mitenthaltenen ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe.

Maitressentestament (Geliebtentestament)

Ein sog. „Maitressentestament“ beinhaltet die erb­rechtliche Zuwendung einer verheirateten Person (Erblasser / Erblasserin) an die Partnerin / den Partner eines ehebrecherischen Liebesverhältnisses. Dabei wird stets angenommen, dass

  • entweder der Erblasser
  • oder die Begünstigte verheiratet ist,
  • aber nicht miteinander,
  • sondern mit einer anderen Person.

In der testamentarischen Begünstigung kann u.U. eine Verletzung moralischer Pflichten gegenüber dem Ehepartner erblickt und daraus eine Sittenwidrigkeit hergeleitet werden.

Eine Sittenwidrigkeit kann angenommen werden, wenn das Testament errichtet wurde,

  • um die Begünstigte zur Fortsetzung des ehebrecherischen Verhältnisses und / oder
  • zur Auflösung ihrer eigenen Ehe zu bestimmen.

Die Tatsache einer ausserehelichen Beziehung zwischen dem Erblasser bzw. der Erblasserin und der bedachten Person führt nicht für sich alleine zu einer Sittenwidrigkeits-Qualifikation. Zu berücksichtigen und zu untersuchen sind vielmehr:

  • Zweck
    • h. der mit dem Testament verfolgte Zweck;
  • Beweggründe
    • h. die Motive (Beweggründe) des Erblassers;
  • Wirkungen
    • h. die Auswirkungen des Testaments.

Das Testament gilt nicht als sittenwidrig,

  • wenn es das Verhalten des Begünstigten nicht zu beeinflussen vermag,
    • zB weil dieser vom Testament bis zur Eröffnung keine Kenntnis hatte.

Entscheidend ist die Wirkung der Zuwendung auf den Begünstigten:

  • Die Zuwendung muss das ehebrecherische Verhalten fördern.

Literatur

  • HASENBÖHLER FRANZ, Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen, in: BMJ 1980, S. 5
  • WOLF STEPHAN / GENNA GIAN SANDRO, SPR IV/1, S. 426
  • EIGENMANN ANTOINE / ROUILLER NICOLAS, Commentaire du droit des successions, Commentaire Stämpfli CS, Bern, Art. 519 ZGB, N 22
  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 120 ff.
  • ABT DANIEL / KÜNZLI MARTIN, Stinkende Fälle: Entwicklungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, in: Paul Eitel / Alexandra Zeiter (Hrsg.), Kaleidoskop des Familien- und Erbrechts, Liber amicarum für Alexandra Rumo-Jungo, Zürich/Basel/Genf 2014, S. 5

Die Rechtsprechung dürfte weiter für die Auslegung des Rechtsbegriffes der „Sittenwidrigkeit“ berücksichtigen:

  • Die Entwicklung der gesellschaftlichen Normen.
  • Die aktuellen Wertvorstellungen der Gesellschaft.
  • Die gewandelte Werteauffassung.

Jedenfalls dürfte davon ausgegangen werden,

  • dass die Testierfreiheit des Erblassers,
    • h. die Freiheit über sein Vermögen innerhalb der Grenzen des Pflichtteilsrechts zu verfügen,
  • heute einen wichtigeren Stellenwert einnimmt als früher.

Erbschleichertestament

Definition

Die «Erbschleicherei» ist darauf aus­gerichtet,

  • dass sich i.d.R. Vertrauenspersonen
    • zB Anwälte, Ärzte, Pflegepersonen usw.,
  • unter Ausnutzung der Schwäche eines potentiellen Erblassers
    • zB betagte Personen,
  • über dessen Testament
    • zB durch Erbeinsetzung oder Vermächtniszuwendungen (Legate),
  • Vermögensvorteile verschaffen,
    • zB erbrechtlich relevante Zuwendungen
  • was von der Öffentlichkeit als gegen die herrschenden Moralvorstellungen verstossend empfunden wird.

Erbschleicherei-Tatbestände / Kasuistik

Wichtige Fälle von Erbschleicherei betreffen Zuwendungen des Erblassers an:

  • Vertrauenspersonen (mit und ohne Berufsgeheimnispflicht)
    • Ärzte / Psychologen
    • Rechtsanwälte / Notare
      • Siehe auch Testament zG Ärzte und Rechtsanwälte
    • Treuhänder
    • Banker / Vermögensverwalter / Finanzberater
    • Pflegepersonen / Sozialarbeiter / Haushaltshilfen / Heimleiter
      • Siehe auch Testament zG Pflegepersonen
    • Pfarrer / Geistliche
    • Beamte (zB KESB)
  • Personen, die mit dem Erblasser eine Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft unterhielten (sog. «Kontaktanzeigenfall»)
  • Personen, die den Erblasser beeinflussten oder ihn zu ihren Gunsten zu einem Testament motivierten

Man kann sich nicht auf Gerichtsurteile verlassen, da die frühere Rechtsprechung infolge veränderter Wertvorstellungen inskünftig ändern könnte.

«… Das Bundesgericht folgte in seiner publizierten Rechtsprechung einer Lehrmeinung, wonach bestimmte Berufsträger – namentlich Ärzte, Psychologen, Anwälte, Geistliche, Notare oder Sozialarbeiter, aber auch Haushalthilfen oder Heimleiter, Bankiers, Treuhänder, Finanzberater usw. – in besonders sensiblen Bereichen tätig seien, da ihnen ihre Tätigkeit unweigerlich tiefe Einblicke in die persönlichen und wirtschaftlichen Belange der betreuten Person verschaffe. Daher dränge sich fallweise die Beurteilung auf, ob eine Verfügung zugunsten einer solchen Vertrauensperson auf einem selbstbestimmten Entscheid beruht oder ob der Berufsträger den aus dem Vertrauensverhältnis sich ergebenden Einfluss in unlauterer Weise ausgenützt habe (BGE 132 III 455 E. 4.1 m.H.a. Abt, Probleme um die unentgeltlichen lebzeitigen Zuwendungen an Vertrauenspersonen, AJP 2004 S. 1225 f.). Demgegenüber verwarf das Bundesgericht die weitergehende Auffassung, «Schenkungen reicher, alleinstehender älterer und kranker Personen müssten bei einem Vertrauensverhältnis irgendwelcher Art vorbehaltlos und allgemein ungültig erklärt werden». Es erwog, damit würde im Ergebnis bei gegebener Urteilsfähigkeit dem selbstbestimmten Entscheid einer Person die Rechtswirkung abgesprochen, welche die Rechtsordnung unter diesen Voraussetzungen vorsehe. Demnach kann nicht jede Zuwendung als Verstoss gegen die guten Sitten unter Lebenden qualifiziert werden, wenn sie an eine Person erfolgt, die durch ihre berufliche Tätigkeit im Umfeld der verfügenden Person deren Vertrauen gewonnen hat. Es bedarf vielmehr einer unlauteren Beeinflussung oder eines Verstosses gegen elementare Standesregeln, deren Zweck gerade darin besteht, von vornherein Interessenkonflikte und Zweifel über mögliche unerwünschte Beeinflussungen zu verhindern (BGE 132 III 455 E. 4.2). …»

Quelle: BGer 4A_3/2014 vom 09.04.2014, Erw. 3.1

Klagevarianten

Derartigen Verhaltensweisen kann durch folgende Instrumente bekämpft werden:

  • Klage auf Ungültigkeit wegen Verfügungsunfähigkeit (Testierunfähigkeit)
  • Klage auf Ungültigkeit wegen Willensmängeln
  • Klage auf Ungültigkeit wegen Sittenwidrigkeit
  • Klage auf Nichtigkeit zufolge Erbunwürdigkeit der Vertrauensperson. 

Beweisproblematik

Es obliegt grundsätzlich dem Kläger, nachzuweisen, dass der Testamentsinhalt rechtswidrig bzw. sittenwidrig bzw. die Vertrauensperson erbunwürdig ist (ZGB 8).

Gesetzgebungsbemühungen

In jüngster Zeit haben sich bestimmte Bevölkerungskreise, Parlamentarier und der Bundesrat (BR) mit dieser unmoralischen Verhaltensweise, die umgangssprachlich als «Erbschleicherei» bezeichnet wird, beschäftigt:

  • Der BR hat die Brücke zur Sittenwidrigkeit geschlagen (vgl. den Vorentwurf und den erläuternden Bericht zur Änderung des ZGB (Erbrecht) des BR, S. 38 ff.)
  • Die Auffassungen für künftige Lösungen gingen aber auseinander (a.a.O., S .39):

«Von einer sehr strikten Lösung wie der Einführung eines neuen Unwürdigkeitsgrundes (mit einer Ausnahme für Gelegenheitsgeschenke) für alle Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Funktion in einem besonderen Vertrauensverhältnis zur verfügenden Person stehen, sowie für ihre Angehörigen (…), über eine moderate Lösung wie der Anfechtbarkeit von Zuwendungen an eine Fachperson, die einen weitgehenden Zugang zur Privatsphäre und zum Vermögen des Erblassers hatte und gegen die Standesethik verstiess (…), bis hin zu einer liberaleren Lösung, gemäss der die Verfügungsfreiheit Vorrang haben soll und das «Trinkgeldtestament» bis zu einem Umfang von 10, 20 oder 33 % des Vermögens zulässig bleiben muss (…).»

Vorhandene Regeln

Die derzeit geltenden Bestimmungen erschienen dem BR zwar als ungenügend. Gleichwohl meinte er, dass diese trotzdem einen gewissen Schutz bieten würden, zumindest in den hochproblematischen Fällen. Ausserdem böten sie den Vorteil, dass dem Erblasser seine Verfügungsfreiheit belassen würde, sei dies für Verfügungen zugunsten seines Anwalts, seiner Haushalthilfe oder seiner Pflegerin.

Literatur

  • ABT DANIEL, Probleme um die unentgeltlichen lebzeitigen Zuwendungen an Vertrauenspersonen, AJP 2004 S. 1225 f.
  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 125
  • ABT DANIEL, Der Vermächtnisnehmer (als lebzeitiger Privatpfleger, Beistand Generalbevollmächtigter und Vorsorgebeauftragter in Personalunion) ist erbunwürdig; seine Vermächtnisklage wurde abgewiesen, in: successio 2023, 66 ff.
  • AEBI-MÜLLER REGINA F., Testierfähigkeit im Schweizerischen Erbrecht, – unter besonderer Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis, in: successio 2012, S. 27 f.
  • ABT DANIEL / KÜNZLI MARTIN, Stinkende Fälle: Entwicklungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, in: Paul Eitel / Alexandra Zeiter (Hrsg.), Kaleidoskop des Familien- und Erbrechts, Liber amicarum für Alexandra Rumo-Jungo, Zürich/Basel/Genf 2014, S. 3, m.w.H.
  • BREITSCHMID PETER, Trinkgelder, Gratifikationen, Erbschaften … oder nichts als Applaus?, Pflegerecht 2022, S. 85
  • SEILER BENEDIKT, Die erbrechtliche Ungültigkeit, unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungen in personeller Hinsicht, Zürich/Basel/Genf 2017, Rz 681 ff.
  • SCHWEIZERISCHE VEREINIGUNG GEGEN ERBSCHLEICHEREI, Erbschleicherei – Ein Medienspiegel, 2017, 215 Seiten

Testament mit Einschränkung des Bedachten bei seiner Willens- und Entscheidungsfreiheit

Eine Sittenwidrigkeit kann vorliegen,

  • wenn der Erblasser den Begünstigten in seiner Willens- und Entscheidungsfreiheit einschränkt,
    • indem er ihn zu Verhaltensweisen verschiedenster Art verleitet,
      • durch Auflagen oder Bedingungen;
      • und ihn gestützt auf eine «aristokratische Vormundschaft» despotisch beeinflusst;
      • und ihn diskriminiert.

Literatur

  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 124 f.
  • PAPEIL ANNE-SOPHIE, Clause testamentaire et liberté du mariage – Une étude comparative basée sur l’affaire américaine Shapira, in: successio 2012, S. 72, 75
  • BREITSCHMID PETER / MATT ISABEL, FS Steinauer, Wille, Willensmängel und zu viel Wollen im Erbrecht, Bern 2013, S. 318
  • SEROZAN RONA, Wohin steuert das Erbrecht?, in: successio 2014, S. 4, 20

Testament auf Basis beeinträchtigter Willensfreiheit des Erblassers

In der Praxis oft anzutreffen ist die Sittenwidrigkeit kraft Beeinträchtigung der freien Willensentscheidung des Erblassers durch Handlungsweisen einer Vertrauensperson:

  • Eine Vertrauensperson beeinträchtigt und be­einflusst durch Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses den Erblasser in seiner Willensfreiheit so, dass dieser die Person auf deren Veranlassung hin mit erbrecht­lichen Zuwendungen begünstigt.
  • Vgl. BGE 132 III 455, Erw. 4.2; BGer 4A_3/2014, Erw. 3.

Bei derartigen Umständen haben sich in der Literatur zwei Fallumschreibungen eingebürgert:

  • «stinkende Fälle»;
  • «Erbschleicherei».

Literatur

  • ABT DANIEL / KÜNZLI MARTIN, FS ARJ, S. 3 ff., samt einer «Checklist für anrüchige Fälle
  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002
  • PÄRLI KURT / WANTZ NADINE, Vermächtnis und amtliche Tätigkeit, in: Pflegerecht Heft Nr. 3/2013, 19. August 2013, S. 185 ff.
  • SEROZAN RONA, Wohin steuert das Erbrecht?, in: successio 2014, S. 20

Testament zu Gunsten Pflegepersonen

Für die Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen wird in den medizinisch-ethischen Richtlinien und Empfehlungen stipuliert, dass das Pflegepersonal, abgesehen von kleinen Gelegenheitsgeschenken keine Schenkungen oder Erbschaften entgegennimmt.

Vergleiche zB

  • die medizinisch-ethischen Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz, genehmigt vom Senat der SAMW am 16.11.2017;
  • in Bezug auf Berufsbeistände
    • das Anforderungsprofil der Schweizerischen Vereinigung der Be­rufsbeistände [SVBB];
    • den Verhaltens-/Berufskodex von Avenir-social.

Solche standes- oder berufsrechtlichen Regeln zeigen auf, dass derartige Zuwendungen nicht vereinbar sind mit:

  • dem Berufsethos;
  • den sittlichen Anschauungen.

Solche Regeln können für eine all­fällige Sittenwidrigkeitskontrolle (ZGB 519 Abs. 1 Ziffer 3) der Rechtsprechung von Bedeutung sein. Entsprechend behandelt das Bundesgericht solche Normen mit grossem Respekt.

In Bezug auf Zuwendungen in öffentlich-rechtlichen Pflege­verhältnissen ist die Beschränkung der Verfügungsfreiheit durch [kanto­nales] öffentliches Personalrecht ein Indikator (vgl. PÄRLI KURT / WANTZ NADINE, a.a.O., 185 ff.).

Literatur

  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 184 ff., S. 194 f., S. 204 + S. 209
  • PÄRLI KURT / WANTZ NADINE, Vermächtnis und amtliche Tätigkeit, in: Pflegerecht Heft Nr. 3/2013, 19. August 2013, S. 185 ff.

Testament zu Gunsten Ärzte und Rechtsanwälte

Die für die Erbschleicherei bzw. „stinkenden Fälle“ aufgezeigte Rechtsprechung ist von Bedeutung für:

  • Ärzte
    • Die Ärzte sind Art. 38 der Standesordnung FMH unterworfen, wonach die Annahme von Geschenken, Verfügungen von Todes wegen oder von anderen Vorteilen, sei es von Patienten, Patientinnen oder von Dritten, die den Arzt in ihren ärztlichen Entscheidungen beeinflussen können und das übliche Mass klei­ner Anerkennungen übersteigen, untersagt ist.
  • Rechtsanwälte
    • Für Rechtsanwälte gilt die Maxime des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen.

Nebenbemerkung: Solche Regeln gelten zudem unter gewissen Voraussetzungen – kraft  Mandatsrechts – für alle Personen, die im Rahmen eines Vertragsverhältnisses für eine andere Person entgeltlich oder unentgeltlich Geschäfte oder Dienste besorgen.

Zuwendungen an Vertrauenspersonen können 

  • zu Erbunwürdigkeit führen;
  • unter dem Aspekt der Verfügungs(un)fähigkeit betrachtet werden;
  • unter dem Aspekt der Willensmängel geprüft werden;
  • unter dem Blickwinkel der Sittenwidrigkeit beurteilt werden.

Eine besondere Stellung nimmt sodann die Sittenwidrigkeit infolge Verstosses gegen berufsethische Maximen ein.

Wegleitende Entscheide bilden:

  • BGE 132 III 455
  • BGer, 4A_3/2014, Erw. 3.1, 3.3 und 3.4
  • BGE 136 III 142 ff., Erw. 3.5 = Pra 2010, Nr. 100.

Literatur

  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 23 ff., S. 124 f., S. 189 ff. und S. 195
  • WOLF STEPHAN / GENNA GIAN SANDRO, SPR N/1, 425 f.
  • ABT DANIEL / KÜNZLI MARTIN, Stinkende Fälle: Entwicklungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, in: Paul Eitel / Alexandra Zeiter (Hrsg.), Kaleidoskop des Familien- und Erbrechts, Liber amicarum für Alexandra Rumo-Jungo, Zürich/Basel/Genf 2014, S. 12 f., S. 203 f. und S. 207
  • WOLF STEPHAN / GENNA GIAN SANDRO, SPR N/1, 425 f.
  • BESSENICH BALTHASAR, Interessenskonflikte in erbrechtlichen Mandaten, in: successio 2013, 128 ff. (v.a. bezüglich Interessenkon­flikte in erbrechtlichen Mandaten)

Testament mit Heim- und Demenzklauseln

In der Praxis wird neuerdings die Sittenwidrigkeit von Heim- oder Demenzklauseln aufgeworfen:

  • Heimklausel
    • Die Heimklausel bezieht sich v.a. auf den Eintritt des begünstigten überlebenden Ehe­gatten in ein Alters- oder Pflegeheim oder den Anfall anderer Betreuungskosten.
  • Demenzklausel
    • Die Demenzklausel kommt beim Verlust der Urteilsfähigkeit zum Tragen.
  • Zweck
    • (vollständiger oder teilweiser) Verlust (Rückgabe / Wegfall) einer erbrechtlichen Begünstigung
  • Sie können in verschiedenen Arten ausgestaltet werden:
    • Nacherbeneinsetzung
    • Auflage unter (aufschiebender oder auflösender) Bedingung
    • Vermächtnis unter (aufschiebender oder auflösender) Bedingung

Die Frage wurde von der Rechtsprechung noch nicht entschieden und in der Doktrin offengelassen.

Literatur

  • FANKHAUSER ROLAND / BURCKHARDT THIERRY, FS Breitschmid, S. 295 ff.
  • ZEITER ALEXANDRA, Schutzklauseln in Eheverträgen und Verfügungen von Todes wegen, in: ZBGR 96 (2015), 365 ff.

Testament mit unsittlichen Auflagen und Bedingungen

Zu den möglicherweise – je nach Sachverhalt – rechtswidrigen bzw. unsittlichen Auflagen oder Bedingungen zählen Klauseln (vgl. ZGB 482 Abs. 2 (grundsätzlich vollständige Ungültigkeit der Verfügung); Geltendmachung mit Ungültigkeitsklage (ZGB 519 Ziff. 3)), wie:

  • Auflagen
    • Privatorische Klausel (auch: resolutive Potestativbedingung)
      • =   Verwirkungsklausel, welche die Begünstigung von Nichtanfechtung einer Verfügung abhängig machen und dem Begünstigten Rechte entziehen, wenn er sich dem Willen des Erblassers widersetzt (umstritten)
    • Vexatorische Klausel (ZGB 482 Abs. 3)
      • =   lästige oder unsinnige Klausel (unzulässig; unbeachtlich siehe Box unten)
  • Bedingungen
    • Kaptatorische Bedingung
      • =   Klausel, die eine Begünstigung davon abhängig machen, dass der Begünstige seinerseits jemanden (Erblasser oder eine Drittperson) begünstigt (in der Regel zulässig).

Sofern und soweit eine Klausel unsittlich ist, besteht eine grundsätzlich vollständige Ungültigkeit der Verfügung. Die Geltendmachung hat mit Ungültigkeitsklage zu erfolgen (ZGB 519 Ziffer 3; siehe Box unten).

Literatur

  • ABT DANIEL, Die Ungültigkeitsklage im schweizerischen Erbrecht, unter besonderer Berücksichtigung von Zuwendungen an Vertrauenspersonen, Diss. Basel 2002, S. 127 ff.
  • WACHENDORF EICHENBERGER ISABEL, Die Konversion ungültiger Verfügungen von Todes wegen, Diss. Basel 2002, 92 ff.
  • AUBERSON GERALDINE, Les clauses punitives du droit successoral, in: successio 2008, S. 35 ff.
  • LÜDI MICHAEL, Auflagen und Bedingungen in Verfügungen von Todes wegen, unter Berücksichtigung des deutschen Rechts, Zürich / Basel / Genf 2016, S. 95 ff.

Verstoss gegen die Beistandspflicht

In der Lehre wird darauf hingewiesen, dass ein Verstoss gegen ZGB 272, namentlich eine Verletzung von Loyalitätspflichten, im Kontext letztwilliger Verfügungen auch eine Sittenwidrigkeit (je nach Fall eher eine Rechtswidrigkeit) begründen könne.

Literatur

  • ABT DANIEL / WEIBEL THOMAS, Erbrecht, Nachlassplanung, Nachlassabwicklung, Willensvollstreckung, Prozessführung, 4. Auflage, Basel 2019, N 29a zu Art. 519 ZGB
  • BREITSCHMID PETER / MATT ISABEL, FS Steinauer, 318 f.

Weiterführende Informationen

Wiederverheiratungsklausel

Sogenannte Wiederverheiratungsklauseln sind testamentarische Anordnungen, welche die Entstehung oder den Verlust erbrechtlicher Ansprüche des Ehepartners davon abhängig machen, ob er wieder heiratet oder nicht.

Im Vordergrund stehen (meist wechselseitige) Wiederverheiratungsklauseln zu Lasten überlebender Ehegatten:

  • Ausgangslage
    • Errichtet der Erblasser eine Verfügung von Todes wegen und begünstigt er den überlebenden Ehegatten mit mehr als ihm bei gesetzlicher Erbfolge zukäme, geschieht dies oft mit der Absicht, dass zumindest ein Teil der Begünstigung nach dem Hinschied auch des überlebenden Ehegatten gleichsam „doch noch“ an die gemeinsamen Nachkommen falle.
  • Korrektur für den Fall der Wiederverheiratung
    • Die Anwartschaften werden beeinträchtigt, wenn der überlebende Ehegatte erneut heiratet.
    • Dieser Situation wird dadurch begegnet, dass der überlebende Ehegatte bei erneuter Verheiratung zumindest einen Teil des letztwillig vom früheren Ehegatten Erhaltenen den gemeinsamen Nachkommen wieder herausgeben muss.
  • Ziel
    • Dem überlebenden Ehegatten soll im Wiederverheiratungsfall gleich viel Substrat verbleiben, wie er seinerzeit bei gesetzlicher Erbfolge erhalten hätte.

Die Frage der Gültigkeit solcher Wiederverheiratungsklauseln wird in der Rechtslehre diskutiert.

Konkubinatsklausel

Die Konkubinatsklausel soll sicherstellen, dass die Anwendung der «Wiederverheiratungsklausel» nicht dadurch umgangen wird, dass der überlebende Ehegatte nicht heiratet, sondern eine «faktische Lebensgemeinschaft» mit einem neuen Partner eingeht:

  • Die «Konkubinatsklausel» soll vor allem vermeiden, dass die Vermögen der beiden zusammenlebenden Partner vermischt werden und für die gemeinsamen Nachkommen Nachteile entstehen.

Auch hier wird in der Rechtslehre darüber debattiert, ob eine solche Einschränkung rechts- und / oder sittenwidrig sein könnte.

Strafklausel

Mit einer sog. Strafklausel (auch: Verwirkungsklausel, privatorische Klausel) verfügt der Erblasser testamentarisch, dass diejenige Person, welche seine Verfügung von Todes wegen als Ganzes oder in Teilen, d.h. einzelne Anordnungen, mittels Nichtigkeits-, Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage anfechten sollte, im Erbgang leer ausgeht oder im Falle einer Pflichtteilsberechtigung nur den Pflichtteil erhalten solle.

Nach herrschender Lehrmeinung gelten Strafklauseln grundsätzlich als zulässig:

  • Ging es dem Erblasser dagegen darum, dem Begünstigten gesetzlich gewährte Rechte und Möglichkeiten zu entziehen, kann die Anordnung rechts- und / oder sittenwidrig sein.

Ungültigkeit

Grundsatz: Anfechtbarkeit

In Anbetracht des Grundsatzes des «favor testamenti» sind Testamente in der Regel nur, aber immerhin, anfechtbar. – Wird ein Testament nicht rechtzeitig angefochten, bleibt es mit allen seinen Mängeln gültig.

Dies gilt auch für den Ungültigkeitsgrund der Unsittlichkeit; im Erbrecht sind daher die Regeln von OR 20 nicht anwendbar.

Ausnahme: Nichtigkeit

Obwohl das Zivilrecht in verschiedenen Bestimmungen den Begriff der Nichtigkeit verwendet, findet sich im Erbrecht keine präzise Aussage über Bedeutung, Inhalt und Folgen der Nichtigkeit. – Nach Lehre und Rechtsprechung wirkt die Nichtigkeit ex tunc (von Anfang an) und absolut; sie ist von den Behörden und Gerichten von Amtes wegen zu beachten (jedoch werden die Behörden und Gerichte selbstredend nur tätig, wenn ihnen ein nichtiges Testament konkret zur Kenntnis gebracht wird [Klage auf Feststellung der Nichtigkeit; siehe „Prozessuales“]).

Auch nichtige Testamente sind der zuständigen Behörde einzuliefern und von dieser amtlich zu eröffnen (vgl. ZGB 556 f.).

Abgrenzung

Ein Teil der Lehre geht davon aus, dass das Abgrenzungsmerkmal zwischen Ungültigkeit und Nichtigkeit durch den Grundsatz des «animus testandi» bestimmt werde.

Zurückhaltung

Die Ungültigkeitsfolge im Sinne von ZGB 519 Abs. 1 Ziff. 3 kann nicht leichthin bejaht werden.

Prozessuales

Aufgrund des Prinzips der «Nichtigkeit von Amtes wegen» kann die Nichtigkeit festgestellt werden:

  • von der rechtsanwendenden Behörde;
  • vom Gericht;
  • auf besondere Klage auf Feststellung der Nichtigkeit;
  • auf Erhebung einer Nichtigkeits-Einrede
  • zeitlich unbefristet.

Klagefristen bei der Ungültigkeitsklage:

  • relative Frist:
    • mit Ablauf eines Jahres, von dem Zeitpunkt an gerechnet, da der Kläger von der Verfügung und dem Ungültigkeitsgrund Kenntnis erhalten hat.
  • absolute Frist:
    • in jedem Falle mit Ablauf von zehn Jahren, vom Tage der Eröffnung der Verfügung an gerechnet.
  • Absolute Frist bei Bösgläubigkeit:
    • unter allen Umständen erst mit dem Ablauf von 30 Jahren.

Kläger bevorzugen wegen aller Unsicherheiten (Anfechtung oder Nichtigkeit, Verjährung der Ungültigkeitsklage) bei ihrer Klage ein zweigleisiges Vorgehen:

  • primär: Begehren auf Feststellung der Nichtigkeit des Testaments;
  • sekundär (eventualiter): Begehren auf Ungültigerklärung des Testaments.

Die Aktivlegitimation steht allen Personen zu, die über ein Feststellungsinteresse verfügen (gesetzliche oder zurückgesetzte Erben, Gläubiger uam.).

Passivlegitimiert ist, wer aus der betreffenden Verfügung Rechte oder Ansprüche ableitet.

Die gutgeheissene Klage erzeugt Wirkungen gegenüber jedermann (erga omnes).

Wirkungen

Ein nichtiges Testament entfaltet überhaupt keine Rechtswirkungen, und zwar ex tunc, d.h. von Anfang an.

Je nach konkretem Sachverhalt kann ein Gericht auch erkennen auf:

  • Teilnichtigkeit;
  • Konversion (Umwandlung in einen rechtsgültigen / nicht sittenwidrigen Testamentsinhalt).

Fazit

Wie so oft in rechtlichen Angelegenheiten ist der individuell-konkrete Einzelfall für die Beurteilung massgebend. Dies ist bei sittenwidrigen Testamenten nicht anders.

RA Urs Bürgi

Urs Bürgi berücksichtigt bei seiner Beratungstätigkeit die betriebswirtschaftlichen Aspekte und strebt pragmatische Lösungen an, um seiner Klientschaft einen Mehrwert zu generieren.

RA Marc Peyer

Vorbehalt / Disclaimer

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