Art. 1 f. AFZFG
Für das bei einer fremden Familie vor 1981 behördlich platzierte Kind darf es bei Integritätsverletzungen keinen Unterschied machen, ob diese von der Familie begangen wurden,
- vor der Adoption als Pflegefamilie oder
- erst nach der Adoption.
Das Bundesgericht (BGer) bestätigt den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer):
- Es weist damit eine Beschwerde des Bundesamtes für Justiz (BJ) ab, welches die Opfereigenschaft eines fremdplatzierten Kindes nach der Adoption durch die Pflegefamilie verneinen wollte.
«Ein Kind wurde 1967 seiner Mutter weggenommen und behördlich bei einer Pflegefamilie fremdplatziert. Die Pflegeeltern adoptierten das Kind im Alter von knapp zweieinhalb Jahren. In der Folge musste es im Vorschulalter und im schulpflichtigen Alter bei seinen Adoptiveltern körperliche Gewalt sowie wirtschaftliche Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung seiner Arbeitskraft erleiden. Im Januar 2018 beantragte der Betroffene beim Bundesamt für Justiz (BJ) die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags für Opfer im Sinne des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG). Das BJ wies zuerst das Gesuch und dann die gegen diese Verfügung erhobene Einsprache des Betroffenen ab. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerde des Betroffenen gut, hob den Einspracheentscheid des BJ auf und wies die Angelegenheit dem BJ zurück, wogegen das BJ beim Bundesgericht eine Beschwerde eingereicht hat. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Gestützt auf eine vertiefte Auslegung des AFZFG kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass ein Kind auch nach einer Adoption durch seine vormaligen Pflegeeltern als fremdplatziert im Sinne von Artikel 2 Buchstabe b des AFZFG gilt, womit es auch nach der Adoption von einer Fremdplatzierung betroffen ist und die Opfereigenschaft nach Artikel 2 Buchstabe d AFZFG erfüllen kann.»Quelle: Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 01.06.2023
BGer 2C_393/2022 vom 05.05.2023
1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen
Art. 1 AFZFG Zweck, Geltungsbereich und Gegenstand
1 Dieses Gesetz bezweckt die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist.
2 Es gilt auch für Personen, die von Massnahmen betroffen waren, die vor 1981 veranlasst, aber erst danach vollzogen worden sind.
3 Es regelt:
- den Solidaritätsbeitrag zugunsten von Opfern;
- die Archivierung und Akteneinsicht;
- die Beratung und Unterstützung Betroffener;
- die wissenschaftliche Aufarbeitung und die Öffentlichkeitsarbeit;
- weitere Massnahmen im Interesse der Betroffenen.
Art. 2 Begriffe
Die folgenden Ausdrücke bedeuten:
- fürsorgerische Zwangsmassnahmen: die vor 1981 in der Schweiz von Behörden veranlassten und von diesen oder in deren Auftrag und unter deren Aufsicht vollzogenen Massnahmen zum Schutz oder zur Erziehung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen;
- Fremdplatzierung: die vor 1981 in der Schweiz von Behörden oder Privaten veranlasste Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ausserhalb ihrer Familie in Heimen oder Anstalten, bei Kost- oder Pflegefamilien oder in gewerblichen oder landwirtschaftlichen Betrieben;
- Betroffene: von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffene Personen;
- Opfer: Betroffene, deren körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit oder deren geistige Entwicklung unmittelbar und schwer beeinträchtigt worden ist, insbesondere durch:
- körperliche oder psychische Gewalt,
- sexuellen Missbrauch,
- unter Druck erfolgte Kindswegnahme und Freigabe zur Adoption,
- unter Druck oder in Unkenntnis der Betroffenen erfolgte Medikation oder Medikamentenversuche,
- unter Druck oder in Unkenntnis der Betroffenen erfolgte Sterilisierung oder Abtreibung,wirtschaftliche Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung der Arbeitskraft
- oder Fehlen einer angemessenen Entlöhnung,
- gezielte Behinderung der persönlichen Entwicklung und Entfaltung,
- soziale Stigmatisierung;
- Angehörige: der Ehegatte oder die Ehegattin sowie der eingetragene Partner oder die eingetragene Partnerin einer betroffenen Person, ihre Kinder und ihre Eltern sowie andere Personen, die ihr in ähnlicher Weise nahestehen.
Quelle
LawMedia Redaktionsteam