Art. 2 lit. b ARV 1
Sachverhalt
«Am 19. November 2018 erklärte das Regionalgericht Berner Jura-Seeland A.B.________, A.A.________ und A.C.________ wegen verschiedener Missachtungen der Bestimmungen der Verordnung über die Arbeits- und Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer und -führerinnen vom 19. Juni 1995 (Chauffeurverordnung, ARV 1, SR 822.221) schuldig. Es bestrafte A.B.________ mit einer Busse von Fr. 500.–, A.A.________ und A.C.________ mit einer Busse von je Fr. 200.–. …» (lit. A.).
Prozess-History
- Kantonale Rechtsmittelinstanz
- Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte das Urteil der Vorinstanz am 1. November 2019, soweit dieses nicht bereits in Rechtskraft erwachsen war.
- Bundesgericht
- A.B.________, A.A.________ und A.C.________ führten Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
- Sie beantragen, sie seien von den Vorwürfen des Nichteinhaltens der Arbeitspausen und des Nichtführens des Arbeitsbuches freizusprechen.
- A.B.________ beantragte zusätzlich, er sei von den Vorwürfen des Nichtführens der Aufstellungen über die Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten und des Nichteinhaltens der Pflichten des Arbeitgebers freizusprechen.
- Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
- A.B.________, A.A.________ und A.C.________ führten Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht äusserte sich einlässlich zur Frage des Rechtsverhältnisses zwischen einer juristischen Person und ihren Organen. Dabei kam es zusammengefasst zu folgenden Schlüssen:
- Direktoren + Verwaltungsräte
- Tendenziell würden betrachtet:
- die Direktoren als Arbeitnehmer;
- die Verwaltungsräte als Beauftragte, wobei für diese das Bestehen eines mandatsähnlichen Vertrages sui generis angenommen würde.
- Tendenziell würden betrachtet:
- Hauptberufliche Organtätigkeit
- Übe ein Organ seine Tätigkeit hauptberuflich aus, sei für die Annahme eines Arbeitsvertrages jedenfalls entscheidend,
- ob es Weisungen erhalte,
- beispielsweise vom Verwaltungsrat, und
- ob es sich entsprechend in einem Abhängigkeitsverhältnis befinde.
- ob es Weisungen erhalte,
- Übe ein Organ seine Tätigkeit hauptberuflich aus, sei für die Annahme eines Arbeitsvertrages jedenfalls entscheidend,
- Verhältnis der juristischen Person und des wirtschaftlich beherrschenden Organs
- Kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, so das Bundesgericht, zwischen einer juristischen Person und dem sie wirtschaftlich beherrschenden Organ:
- Es bestünde mithin etwa kein Arbeitsvertrag zwischen einer Gesellschaft und deren Anteilsinhaber bzw. dem alleinigen Geschäftsführer.
- Kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, so das Bundesgericht, zwischen einer juristischen Person und dem sie wirtschaftlich beherrschenden Organ:
- Vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellungen
- Hauptverantwortlicher Arbeitgeber + Geschäftsführer
- Die Vorinstanz stellte in tatsächlicher Hinsicht fest, beim «Beschuldigten 1» (recte: A.B.________) handle es sich um den hauptverantwortlichen Arbeitgeber und Geschäftsführer der B.________ GmbH (Urteil, S. 7).
- Weisungsfreiheit
- Dass A.B.________ in dieser Stellung Weisungen erhalte oder nicht frei über den Einsatz der Fahrzeuge bestimmen dürfe, war
- weder anzunehmen,
- noch dem angefochtenen Entscheid zu entnehmen.
- Dass A.B.________ in dieser Stellung Weisungen erhalte oder nicht frei über den Einsatz der Fahrzeuge bestimmen dürfe, war
- Qualifikation «selbständigerwerbend» für GF
- A.B.________ war demnach als «selbständigerwerbend» im Sinne von Art. 2 lit. b ARV 1 zu qualifizieren.
- Qualifikation «selbständigerwerbend» für Ehefrau + Sohn
- Dasselbe galt – nach dem Wortlaut der erwähnten Verordnungsbestimmung – für seine Ehefrau, A.A.________, und seinen Sohn, A.C.________.
- Keine Beurteilung, ob beschuldigte Personen originär «selbständigerwerbend»
- Ob diese Personen auch originär als selbständigerwerbend zu betrachten sind, konnte laut Bundesgericht vorliegend offenbleiben.
- Hauptverantwortlicher Arbeitgeber + Geschäftsführer
- Fazit
- A.B.________: selbständigerwerbend
- A.B.________ unterlag als hauptverantwortlicher Arbeitgeber und Geschäftsführer der B. GmbH keinen Weisungen und konnte frei über den Einsatz der Fahrzeuge verfügen, weshalb er als „selbständigerwerbend“ i.S.v. Art. 2 lit. b ARV 1 galt.
- Ehefrau A.A.________ und Sohn A.C.________ auch selbständigerwerbend
- Dasselbe galt — nach dem Wortlaut der hievor erwähnten Bestimmung — für seine Ehefrau A.A.________ und seinen Sohn A.C.________.
- A.B.________: selbständigerwerbend
Entscheid des Bundesgerichts
- Die Beschwerde wurde gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
- Für das bundesgerichtliche Verfahren wurden keine Kosten erhoben (BGG 66 Abs. 1 und 4).
- Die Beschwerdeführer wurde der Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung zuerkannt (BGG 68 Abs. 2).
BGer 6B_1391/2019 vom 01.07.2020
Art. 2 ARV 1 Begriffe
In dieser Verordnung werden folgende Begriffe verwendet:
- Als Führer oder Führerin gilt, wer, sei es auch nur für kurze Zeit, ein Fahrzeug nach Artikel 3 Absatz 1 lenkt;
- als selbständigerwerbend gilt, wer in keinerlei Anstellungs- oder Unterstellungsverhältnis steht und allein über den Einsatz des Fahrzeuges entscheidet (Betriebsinhaber); in Zweifelsfällen (z. B. bei Vertragsfahrern) ist das tatsächliche Beschäftigungsverhältnis und nicht die Bezeichnung in einem allfälligen Vertrag massgebend; als selbständigerwerbende Führer oder Führerinnen gelten auch der Ehegatte des Betriebsinhabers, seine Verwandten in auf- und absteigender Linie und deren Ehegatten sowie seine Stiefkinder;
- als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin gilt, wer nicht selbständigerwerbender Führer oder selbständigerwerbende Führerin ist, insbesondere wer Fahrzeuge in einem Anstellungs- oder Unterstellungsverhältnis führt;
- als Arbeitgeber gilt, wer als Betriebsinhaber oder Vorgesetzter gegenüber dem Führer oder der Führerin weisungsbevollmächtigt ist;
- 4 als Arbeitsplatz gelten:
- der Standort des Unternehmens, für das der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin tätig ist,
- das Fahrzeug, das der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin bei seiner oder ihrer beruflichen Tätigkeit benutzt,
- jeder andere Ort, an dem die mit der Beförderung verbundenen Tätigkeiten ausgeführt werden;
- 5 als Arbeitszeit gilt die Zeit, während der der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin am Arbeitsplatz ist, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine oder ihre Funktion oder Tätigkeiten ausübt; zur Arbeitszeit zählen ferner die Arbeitspausen von weniger als 15 Minuten;
- 6 als Bereitschaftszeit gilt die Zeit, in der der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nicht verpflichtet ist, am Arbeitsplatz zu bleiben, sich jedoch in Bereitschaft halten muss, um auf Anweisung hin die Fahrtätigkeit oder andere Arbeiten aufzunehmen oder wiederaufzunehmen;
- 7 als berufliche Tätigkeit gilt für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin die Arbeitszeit, für den selbstständigerwerbenden Führer oder die selbstständigerwerbende Führerin die Lenkzeit sowie die mit dem Transport zusammenhängenden Tätigkeiten;
- 8 als Ruhezeit gilt der Zeitraum, in dem der Führer oder die Führerin frei über seine oder ihre Zeit verfügen kann;
- 9 als Woche gilt der Zeitraum zwischen Montag 00.00 Uhr und Sonntag 24.00 Uhr;
- 10 als Mehrfachbesatzung gilt der Fall, in dem während der Lenkdauer zwischen zwei Ruhezeiten mehrere Führer und Führerinnen auf dem Fahrzeug zum Lenken eingesetzt sind;
- 11 als nicht gewerblicher Transport gilt jeder Transport im Strassenverkehr:
- der weder direkt noch indirekt entlohnt wird,
- durch den weder direkt noch indirekt ein Einkommen für den Führer oder die Führerin des Fahrzeugs oder für Dritte erzielt wird, und
- der nicht im Zusammenhang mit einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit steht.
4 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
5 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
7 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
8 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
9 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
10 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 30. Juni 2010, in Kraft seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 3239).
11 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 17. Nov. 2021, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 792).
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam