Die dem Staatssekretariat für Migration (SEM) gesetzlich eingeräumte Kompetenz, kantonalen Entscheiden über die Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen die Zustimmung zu verweigern, ist teilweise verfassungswidrig. Soweit das SEM dabei Entscheide kantonaler Gerichte übersteuern kann, liegt eine Verletzung der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit vor.
Sachverhalt
Das Migrationsamt des Kantons Zürich verweigerte einem irakischen Staatsangehörigen, welcher 2018 straffällig gewordenen war, die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung.
Prozessgeschichte
- Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
- Das Zürcher Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde des Betroffenen gut und wies das Migrationsamt an, die Aufenthaltsbewilligung zu verlängern.
- SEM
- Das SEM verweigerte der Bewilligungsverlängerung in Anwendung von Artikel 99 Absatz 2 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) seine Zustimmung und wies den Mann aus der Schweiz aus.
- Bundesverwaltungsgericht
- Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte den SEM-Entscheid.
- Bundesgericht
- Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Betroffenen ebenfalls ab.
Erwägungen
Das Bundesgericht (BGer) gelangt im Rahmen seiner Rechtsfindung zum Schluss,
- dass Artikel 99 Absatz 2 AIG teilweise verfassungswidrig ist.
Die fragliche Bestimmung räumt dem SEM die Kompetenz ein, kantonalen Entscheidungen über die Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen die Zustimmung zu verweigern.
Dazu im Einzelnen:
- Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips + des Gebots der richterlichen Unabhängigkeit
- Sofern und soweit – wie im konkreten Fall – ein kantonales Gericht die Erteilung einer entsprechenden Bewilligung angeordnet hat, erweist sich die Übersteuerung dieses Entscheides durch das SEM im Zustimmungsverfahren als Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung resp. des Gebots der richterlichen Unabhängigkeit.
- Gebundenheit des BGer an rechtskräftige Gerichtsentscheide
- Aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass Verwaltungsbehörden an rechtskräftige Gerichtsentscheide gebunden sind.
- Ausnahme:
- Eine Ausnahme kann sich nur ergeben, wenn sich eine Befugnis zur Übersteuerung eines Gerichtsentscheides direkt aus dem Verfassungsrecht ergibt.
- Dem SEM steht es unabhängig vom Zustimmungsverfahren offen, kantonale Gerichtsentscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen (auf die ein Anspruch besteht), mit Beschwerde beim Bundesgericht anzufechten.
- Eine solche Möglichkeit hat das SEM primär zu nutzen, wenn es mit einem kantonalen Entscheid nicht einverstanden ist.
- SEM mit wirksamem Instrument für das bundesstaatliche Anliegen
- Es verfügt damit über ein hinreichend wirksames Instrument, um bundesstaatliche Anliegen einzubringen.
Obiter dictum:
Gemäss Bundesverfassung hat das Bundesgericht Bundesgesetze auch bei festgestellter Verfassungsverletzung anzuwenden. – Der fragliche Artikel 99 Absatz 2 AIG bleibt im vorliegenden Fall daher anwendbar.
Der Gesetzgeber wird jedoch vom BGer angehalten, die festgestellte verfassungsrechtliche Problematik zu beheben.
Entscheid des Bundesgerichts
- Die Beschwerde wird abgewiesen.
- Die Gerichtskosten von Fr. 2’000.– werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
- Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung VI, mitgeteilt.
BGE 2C_681/2023 vom 19.03.2023
Quelle
LawMedia Redaktionsteam
Bildquelle: migration.swiss