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Verkehrsrecht / Strafprozessrecht

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(Nicht-)Verkehrsunfall: Pflichtwidriges Verhalten?

Datum:
30.08.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Verkehrsrecht
Stichworte:
Fahrunfähigkeit, Fremdschaden, Geldstrafe, Unfall, Verkehrsunfall
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

SVG 51; SVG 55; SVG 92

Sachverhalt

Mit Strafbefehl vom 8. November 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft Sursee A.________ wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden zu einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen und Fr. 2’500.– Busse.

Prozess-History

  • Bezirksgericht Willisau
    • Auf die Einsprache von A.________hin reduzierte das Bezirksgericht Willisau die bedingte Geldstrafe am 25. Juni 2020 auf 65 Tagessätze und die Verbindungsbusse auf Fr. 1’650.–. Ausserdem sprach es eine Übertretungsbusse von Fr. 650.– aus.
  • Kantonsgericht des Kantons Luzern
    • Das Kantonsgericht Luzern wies die Berufung von A.________ am 2. Februar 2021 ab.
  • Bundesgericht
    • Mit Beschwerde in Strafsachen beantragte A.________, er sei freizusprechen, eventualiter sei die Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

Erwägungen des Bundesgerichts

Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer A.________ machte folgendes geltend:

  • Der Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall sei nicht erfüllt,
    • da gemäss Feststellung der Vorinstanz kein Sachschaden erstellt sei.
  • Essei sein Anspruch auf rechtliches Gehör resp. auf Beweisergänzung verletzt.
  • Essei nicht erstellt, dass sich der Beschwerdeführer einer Atemalkoholprobe widersetzt oder entzogen habe.

Unfallereignis?

  • Pflicht zu sofortigem Anhalten bei einem Unfall
    • Ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug oder Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten (SVG 51 Abs. 1 erster Satz).
  • Blosser Sachschaden
    • Ist nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben.
  • Unmöglichkeit, den Geschädigten zu benachrichtigen
    • Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen (SVG 51 Abs. 3).
    • Dies gilt auch, wenn der Schaden nur ein verhältnismässig geringes Ausmass erreicht (…).

Anhaltepflicht / Vergewisserungspflicht?

  • Relation SVG 51 Abs. 2 zu SVG 51 Abs. 1
    • Die in SVG 51 Abs. 3 genannten Pflichten schliessen an die Verhaltenspflichten gemäss Abs. 1 derselben Bestimmung an.
  • Unverzügliches Anhalten
    • Nur wenn der beteiligte Motorfahrzeug- oder Fahrradlenker unverzüglich anhält, kann geklärt werden, ob ein Schaden entstanden ist.
  • Anhalten als Voraussetzung für die weiteren Pflichten auf der Unfallstelle
    • Das Anhalten ist mithin die Voraussetzung für die Erfüllung der weiteren Pflichten auf der Unfallstelle (…).
  • Weiterfahren ohne Vergewisserung eines Sach- oder Personenschadens
    • Ein Unfallbeteiligter, der weiterfährt, ohne sich zu vergewissern, ob ein Sach- oder Personenschaden eingetreten ist, macht sich daher unabhängig davon strafbar, ob sich nachträglich ein Schaden herausstellt (…).
  • Entfallen der Vergewisserungspflicht
    • Die Pflicht entfällt nur, wenn von vornherein zweifelsfrei feststeht, dass kein Fremdschaden eingetreten ist (…).
  • Meldepflicht zur Benachrichtigung von Geschädigtem oder Polizei nur bei effektivem Schaden
    • Hält der Fahrzeuglenker an und unterlässt er die Benachrichtigung des Geschädigten oder der Polizei, verletzt er nach dem Wortlaut des Gesetzes seine Pflichten gemäss SVG 51 Abs. 3 nur, wenn tatsächlich ein Sachschaden entstanden ist (…).

Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit? 

  • Straftatbestand
    • Der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gemäss SVG 91a Abs. 1 macht sich schuldig, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung, die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelt hat.
  • Objektiv erfüllter Tatbestand?
    • Voraussetzungen
      • Die Unterlassung der sofortigen Meldung eines Unfalls an die Polizei erfüllt den objektiven Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, wenn
        • (1) der Fahrzeuglenker gemäss SVG 51 zur sofortigen Meldung verpflichtet ist,
        • (2) die Meldepflicht der Abklärung des Unfalls und damit allenfalls auch der Ermittlung des Zustands des Fahrzeuglenkers dient (Zweckzusammenhang),
        • (3) die Benachrichtigung der Polizei möglich war und
        • (4) bei objektiver Betrachtung aller Umstände die Polizei bei Meldung des Unfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Atemalkoholkontrolle angeordnet hätte (…).
    • Neue Rechtsprechung
      • Während die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer solchen Untersuchungsmassnahme nach der bisherigen Rechtsprechung von den konkreten Umständen des Falles (Art, Schwere und Hergang des Unfalls, Zustand sowie Verhalten des Fahrzeuglenkers vor und nach dem Unfall) abhängig gemacht wurde (…),
        • muss nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung
          • grundsätzlich bereits mit der Anordnung einer Atemalkoholkontrolle gerechnet werden, wenn ein Fahrzeugführer in einen Unfall verwickelt ist (…; vgl. SVG 55 Abs. 1).
    • Ausnahme
      • Fahrzeuglenkerunabhängige Kollision
        • Anders verhält es sich (nur), wenn die Kollision zweifelsfrei auf einen vom Fahrzeuglenker unabhängigen Umstand zurückzuführen ist (…).
    • Vom BGer frei überprüfbare Rechtsfrage
        • Ob eine Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit sehr wahrscheinlich ist, gilt als eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei überprüft (…).
  • Subjektiv erfüllter Tatbestand?
    • Allgemein
      • Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei Eventualvorsatz genügt (…).
    • Voraussetzungen
      • Der subjektive Tatbestand gilt als gegeben,
        • wenn der Fahrzeuglenker die die Meldepflicht sowie die hohe Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer Blutprobe begründenden Tatsachen kannte und
        • wenn daher die Unterlassung der gemäss SVG 51 vorgeschriebenen und ohne Weiteres möglichen Meldung an die Polizei vernünftigerweise nur als Inkaufnahme der Vereitelung einer Blutprobe gewertet werden kann (…). 

Im konkreten Fall

Nach dem zum Sachverhalt Gesagten rügt der Beschwerdeführer A.________ zu Recht, dass

  • er – mangels eines erwiesenen und durch ihn verursachten Sachschadens am Fahrzeug von B.________ aufgrund des Touchierens – weder zu einer Meldung an die Polizei noch an die vermeintliche Geschädigte verpflichtet war;
  • er erwiesenermassen nach dem Unfallereignis angehalten und sich, wenn auch nur kurz, vergewissert habe, ob ein Sach- oder Personenschaden eingetreten sei.
  • er gemäss Feststellungen der Vorinstanz um sein Auto herumging und nachschaute, nachdem er von der mutmasslichen Geschädigten, die den Vorgang beobachtet hatte, darauf angesprochen worden war, ob es zu einem Schaden gekommen war.

Der Beschwerdeführer war damit, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, seiner Pflicht gemäss SVG 51 hinreichend nachgekommen.

Dies galt umso mehr, als A.________ gegenüber der mutmasslichen Geschädigten

  • Angaben machte zu
    • Namen, Vornamen und Versicherung
  • anbot,
    • für einen allfälligen Schaden aufzukommen.

Die Vorinstanz unterstellte A.________ denn auch gar nicht, dass er sich habe vom Unfallort entfernen wollen.

Damit war der Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall objektiv nicht erfüllt.

Da der Beschwerdeführer, mangels eines Sach- oder Personenschadens, somit nicht zu einer Meldung an die Polizei oder die vermeintliche Geschädigte verpflichtet war, war auch der objektive Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nicht erfüllt. 

Fazit

Das BGer kam zum Ergebnis, dass

  • der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletze und aufzuheben sei;
  • der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freizusprechen sei;
  • ausgangsgemäss keine Kosten zu erheben seien;
  • der Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung gemäss Kostennote seines Rechtsvertreters vom 3. Mai 2021 (BGG 66 Abs. 1 und 4; BGG 68);
  • die Sache ist zur Neuregelung der kantonalen Kosten an die Vorinstanz zurückzuweisen sei.

Entscheid des Bundesgerichts

  1. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 2. Februar 2021 wird aufgehoben. Der Beschwerdeführer wird von den Vorwürfen des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden und der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit freigesprochen. Die Sache wird zur Neuregelung der kantonalen Kosten an das Kantonsgericht zurückgewiesen.
  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
  3. Der Kanton Luzern bezahlt dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren Fr. 2’595.55 Parteientschädigung.
  4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

BGer 6B_470/2021 vom 27.09.2021

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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