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Schulrecht

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Anfechtungskriterien bei schulorganisatorischen Massnahmen

Rechtsgebiet:
Schulrecht
Stichworte:
Anfechtbarkeit, Anfechtungskriterien, Bildung, Rechtsschutz, Rechtsweggarantie, Schulische Massnahmen, schulorganisatorische Massnahmen, schulorganisatorischen Massnahmen, Schulrecht
Autor:
Bürgi Nägeli Rechtsanwälte
Herausgeber:
Verlag:
LAWMEDIA AG

Sphärentheorie

Lehre und Rechtsprechung ziehen hinsichtlich der Anfechtbarkeit von organisatorischen Anordnungen in Sonderstatusverhältnissen die sog. „Sphärentheorie“ heran.

  • Innenrechtssphäre
    • Anordnungen innerhalb des Betriebsverhältnisses (= Innenrechtssphäre) sind nicht anfechtbar.
      • Interne schulorganisatorische Massnahmen
        • beschränken sich auf den schulinternen Bereich und
        • haben daher sog. innerbetrieblichen Charakter.
  • Aussenrechtssphäre
    • Das Grundverhältnis (= Aussenrechtssphäre) berührende Anordnungen gelten als anfechtbar.
      • Berührt die schulische Anordnung ein Grundverhältnis zum Beispiel mit folgenden Betroffenheiten:
        • Rechtsstellung des Schülers;
        • Auferlegung besonderer Pflichten;
        • Auferlegung sonstiger Nachteile, welche sich nicht aus einem Sonderstatusverhältnis ergeben.

Die „Sphärentheorie“ verursacht in der Praxis oft Abgrenzungsprobleme, da sich Innen- und Aussenrechtssphäre nicht immer klar abgrenzen lassen.

Einige Grenzfälle illustrieren dies:

  • Absenzwesen
    • (nur das Betriebsverhältnis betreffend?);
  • Eintrag einer unentschuldigten Absenz im Zeugnis
    • (negative Auswirkungen für die Schullaufbahn?);
  • Zeugnisnote
    • (negative Beurteilung von Arbeits- und Lernverhalten?);
  • Betragensnote
    • (Bewertung aus Feststellung des schulischen Verhaltens?);
  • (Durchschnitts-)Note für das Arbeits- und Sozialverhalten
    • (Auswirkung auf Aufnahmeentscheid ins (Kurz-)Gymnasium?).

In der Praxis wird heute abgestellt:

  • weniger auf die dogmatische „Sphärenidee“;
  • mehr auf das objektive Rechtsschutzbedürfnis des von schulischen Massnahmen betroffenen Kindes.

Vgl. hiezu HÖRDEGEN STEPHAN, a.a.O., S. 157 f.; MÜLLER MARKUS, Das besondere Rechtsverhältnis, Bern 2002, S. 217 f.).

In der Lehre gibt es differente Beurteilungen:

  • Ablehnung der Sphärentheorie und Beurteilung der Anfechtbarkeit schulorganisatorischer Anordnungen allein auf Basis der Strukturmerkmale der Verfügung nach Art. 5 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes (VwVG).
    • Vgl. BICKEL JÜRG / OESCHGER MAGNUS / STÖCKLI ANDREAS, Die verfahrensfreie Verfügung, ZBl 110/2009, S. 593 ff., insbesondere S. 621.
  • Kritisches Festhalten an der „Sphärentheorie“ zur Beurteilung der Wirkungsrichtung des Verwaltungshandelns.
    • Vgl. auch BGer 2C_272/2012 vom 09.07.2012, Erw. 4.3.

Anfechtbarkeit bei Eingriff in den Tagesablauf des Kindes

Schulorganisatorische Massnahmen sollen immer dann anfechtbar sein, wenn sie in erheblicher Weise in den Tagesablauf des betroffenen Kindes eingreifen (vgl. BGer 2C_1123/2013 vom 19.06.2014, Erw. 2.3.1), d.h.:

  • Massnahmen, die wesentlich weiter gehen als die üblichen schulorganisatorischen Anordnungen.

Literatur

  • HÖRDEGEN STEPHAN, Entwicklungen beim Rechtsschutz im Schulbereich, in: recht 2018, S. 157

Mindestanforderungen der Rechtsweggarantie

Nach bundesgerichtlicher Praxis setzt die Beachtung der Rechtsweggarantie (BV 29a) voraus, dass die beanstandete Handlung als anfechtbarer Hoheitsakt einzustufen ist:

  • Anfechtbarkeitskonzept
    • Konzipierung
      • einer materiellen Rechtslage und
      • den damit verbundenen Bedürfnissen nach gerichtlicher Kontrolle (vgl. BGer 2C_272/2012 vom 09.07.2012, Erw. 4.3).
    • Begriff der Rechtsstreitigkeit
      • Die Streitigkeit muss im Zusammenhang mit einer individuellen, schützenswerten Rechtsposition stehen (vgl. BV 29a + BGE 143 I 336, Erw. 4.1).
      • Der Begriff der Rechtsstreitigkeit wird vom Bundesgericht weit verstanden.
  • Berührtheit
    • Grundsatz
      • Der Rechtsschutz muss gewährt werden, wenn ein Realakt oder eine verwaltungsinterne Anordnung individuelle, schützenswerte Rechtspositionen berührt.
    • Mögliche Rechtspositionen
      • Solche Positionen können sich auf Verfassungs-, Gesetzes- oder Verordnungsrecht eines bestimmten Rechtsgebiets, zB Schulrecht, beziehen.
  • Schützenswerte Rechtsposition
    • Zwei Konstellationen von schützenswerten Rechtspositionen
      • 1. Verletzung eines Rechtsanspruchs auf ein bestimmtes staatliches Handeln oder Unterlassen:
        • Dabei können sich solche Rechtsansprüche ergeben aus:
          • subjektiv-rechtlichen Ansprüchen,
            • zB Anspruch auf Grundschulunterricht;
          • objektiv-rechtlichen Normen,
            • zB vorgegebene Pflichtlektionen für ein Unterrichtsfach
        • Vgl. MÜLLER MARKUS, Kommentar zum Urteil BGer 1C_517/2017 (BGE 143 I 336), in: ZBl. 2018/2017, S. 734, 446.
      • 2. Eine schützenswerte Rechtsposition zu den Modalitäten der Rechtsausübung:
        • Gemeint ist damit, dass zwar keine Rechtsansprüche berührt sind, die Modalitäten der Rechtsausübung durch den
        • Der anzufechtende Akt mutet dem Betroffenen besondere Verhaltenspflichten oder sonstige besondere Nachteile zu,
          • diese in erheblicher Weise in sein Leben bzw.
          • seinen Tagesablauf eingreifen oder
          • seinen gerechtfertigten Bedürfnissen nicht Rechnung tragen (vgl. BGE 143 I 336).
  • Schutzwürdigkeit
    • Der Beurteilung der Schutzwürdigkeit einer Rechtsposition kommt eine zentrale Bedeutung zu.

(Nicht-)Anfechtbarkeit und Handlungsform-Bedeutung

Es gibt Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen anfechtbaren und nicht anfechtbaren organisatorischen Anordnungen.

  • Rechtsprechung des Bundesgerichts
    • Das Bundesgericht will diesen Problemen dadurch begegnen, dass die Anfechtungsmöglichkeit für gewisse Kategorien von schulrechtlichen Anordnungen gesetzlich oder reglementarisch vorgesehen werde (vgl. BGer 2P.324/2001 vom 28.03.2002).
    • Einzelne Kantone haben daher gewisse Anordnungen in ihren Erlassen explizit von der Anfechtbarkeit ausgenommen.
  • Kritik der Lehre
    • In der Lehre wird die bundesgerichtliche Ansicht, die kantonalen Gesetz- und Verordnungsgeber könnten frei bestimmen, welche Anordnungen anfechtbar seien und welche nicht, mit verschiedenen Argumenten kritisiert (vgl. RICHLI PAUL, Fragwürdige Verrechtlichungen im Bildungswesen, in: Festschrift für Tobias Jaag, Zürich 2012, S. 251).
  • Kein Anfechtungsausschluss für Verordnungen und Reglemente
    • Der Ausschluss des richterlichen Rechtsschutzes auf Verordnungs- oder Reglements-Stufe ist aufgrund des Legalitätsprinzips unzulässig (vgl. BV 29a Abs. 2).

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