Seit die Schweiz und die EU 1999 das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) unterzeichneten, wird in der Schweiz über die Zuwanderung und ihre Folgen diskutiert. Mit der Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten hat sich diese Debatte in den vergangenen Jahren stetig intensiviert.
Zunehmend wird die Zuwanderung mit den verschiedensten gesellschaftlichen Fragen und Problemen in Verbindung gebracht: Lohndumping und steigender Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, Zersiedelung, Wohnungsknappheit und das Risiko einer Immobilienblase, soziale Ungleichheit und Pauschalbesteuerung, kulturelle Differenzen und Integrationsfragen, oder auch die Überlastung der Strassen und des öffentlichen Verkehrs. Mit Initiativen wie der derjenigen der SVP «Gegen Masseneinwanderung» versuchen einzelne Parteien, die Zuwanderung wieder stärker zu begrenzen.
Verschiedene parlamentarische Vorstösse fordern nun vom Bundesrat, die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit aufzuzeigen und die Zuwanderung stärker zu steuern. Seit Juli 2012 liegt die Antwort des Bundesrates in Form eines Berichts zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit vor.
Schrittweise Ausdehnung der Personenfreizügigkeit seit 2002
Für Staatsbürger der EU-17 (EU-15 plus Zypern und Malta) und der EFTA-Staaten gilt die Personenfreizügigkeit seit 2002. 2004 wurde das Abkommen im Zuge der EU-Erweiterung durch ein erstes Protokoll ergänzt, das die Einführung der Personenfreizügigkeit mit den neuen Mitgliedsstaaten (EU-8) regelt. 2009 trat das Protokoll II in Kraft, das die Personenfreizügigkeit auch auf Rumänien und Bulgarien (EU-2) ausdehnt. Das Personenfreizügigkeitsabkommen soll die Lebens- und Arbeitsbedingungen für EU- und EFTA-Bürger in der Schweiz vereinfachen. Neben dem Freizügigkeitsrecht zählt dazu auch eine gegenseitige Anerkennung von Berufsdiplomen, das Recht auf Immobilienerwerb und eine Koordination der Sozialversicherungen.
Seit Mai 2011 gilt die vollständige Personenfreizügigkeit für Angehörige der EU-8-Staaten, und bis spätestens 2016 auch für Bulgarien und Rumänien. Die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens hat die politische Diskussion über die Auswirkungen der Zuwanderung in der Schweiz weiter angeheizt. Die Anrufung der Ventilklausel gegenüber den EU-8-Staaten im April 2012 kann als Ausdruck des innenpolitischen Drucks gesehen werden, den die Debatte rund um die Zuwanderung aufgebaut hat.
Parlamentarische Vorstösse zur Personenfreizügigkeit und zur Zuwanderung
Seit 2009 wurden im Parlament mehrere Vorstösse zum Thema Zuwanderung lanciert:
2010 wurde das Postulat 09.4301 Girod («Bericht zu Auswirkungen der Personenfreizügigkeit») angenommen. Damit erteilte der Nationalrat dem Bundesrat den Auftrag, einen Bericht über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit zu erstellen und mögliche Verbesserungsmassnahmen aufzuzeigen: «Die Debatte um die Personenfreizügigkeit und ihre Auswirkungen beschäftigt viele Menschen in der Schweiz. Dabei wird viel über Auswirkungen der Personenfreizügigkeit sowie Gründe für die wirtschaftliche Zuwanderung spekuliert. Damit die Debatte stärker auf Daten basiert, soll der Bundesrat einen fundierten Bericht zu dieser Thematik erstellen.»
Gleichzeitig wurde im Nationalrat das Postulat 09.4311 Bischof («Migrationshoheit wahren. Zu- und Rückwanderung steuern») angenommen, das einen Bericht zur Steuerung der Zuwanderung fordert: «Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament einen Bericht über die heute praktizierte Steuerung der Zuwanderung aus der EU und aus Drittstaaten sowie die ins Auge gefassten Massnahmen vorzulegen, die sicherstellen, dass die Schweiz ihre Migrationshoheit wahrt, optimal nutzt und möglichst ausbaut. Einzubeziehen sind dabei Staatsverträge, namentlich das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, sowie die schweizerische Ausländer-, Sozialversicherungs- und Sozialhilfegesetzgebung.»
Die vom Parlament angenommene Motion 10.3721 Brändli («Die Zuwanderung in geordnete Bahnen lenken») erteilt dem Bundesrat im Zusammenhang mit der Zuwanderung schliesslich einen dritten Auftrag: «Der Bundesrat wird beauftragt, Massnahmen vorzuschlagen, die geeignet sind, die Zuwanderung der letzten Jahre in geordnete Bahnen zu lenken.»
Bericht des Bundesrates zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit
Um die offenen parlamentarischen Vorstösse zur Personenfreizügigkeit und zur Zuwanderung zu beantworten, hat der Bundesrat 2011 eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese hatte bis im Sommer 2012 einen Bericht vorzulegen, der die Postulate Girod und Bischof sowie die Motion Brändli zusammenfassend beantwortet. Seit Juli 2012 liegt der Bericht «Bericht des Bundesrates über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz (in Beantwortung der Postulate 09.4301 Girod, 09.4311 Bischof und der Motion 10.3721 Brändli)» zuhanden des Parlaments vor.
Darin hält der Bundesrat fest, dass sich die Zuwanderung der letzten Jahre grundsätzlich positiv auf die Schweizer Wirtschaft ausgewirkt habe. Damit habe sie dazu beigetragen, dass die Schweiz ihren Wohlstand bewahren konnte: «Unter Einbezug aller Vor- und Nachteile kommt der Bundesrat zudem zum Schluss, dass sich das duale Zulassungssystem bewährt hat und dass dessen Beibehaltung auch für die nächsten Jahre die besten Voraussetzungen bietet, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.» Daneben beeinflusse die Zuwanderung jedoch auch das Wachstum der Bevölkerung, was die politischen Anforderung bei der Integration, beim Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und der Raumplanung und der Bildungspolitik erhöhe.
Der Bericht zieht in Bezug auf die Personenfreizügigkeit die folgenden Schlüsse:
1. Das duale Zulassungssystem hat sich bewährt:
«Die Erkenntnisse der Arbeiten zeigen auf, dass sich die Zuwanderung der letzten Jahre in weiten Teilen positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz auswirkt und der Schweiz die Möglichkeit gibt, ihren Wohlstand zu bewahren.»
2. Eine marktgesteuerte Zulassungspolitik erfordert begleitende Massnahmen:
«Der Bundesrat hält fest, dass der Grossteil der heutigen Zuwanderung (über das FZA) marktgesteuert ist, wobei die Wirtschaft bestimmt, welche und wie viele Ausländer mit welchen Qualifikationen in die Schweiz einwandern. Die Schweizer Bevölkerung hat dieses Prinzip in mehreren Volksabstimmungen mehrmals bestätigt. Begleitende Massnahmen tragen zur Eindämmung der negativen Folgen der Zuwanderung bei und steuern damit letzten Endes die Zuwanderung massgeblich mit. Dabei kommt insbesondere der staatlichen Integrationspolitik eine Schlüsselrolle zu.»
3. Einer restriktivere Politik hätte negative Auswirkungen:
«Der Bundesrat ist überzeugt, dass eine Steuerung der Zuwanderung aus der EU über bürokratische Instrumente ineffizient und unpraktisch wäre. Im Hinblick auf bevorstehende Diskussionen über Volksinitiativen, welche eine Abkehr von der aktuellen, marktgesteuerten Zulassungspolitik fordern, weist der Bundesrat auch auf die zahlreichen negativen Folgen hin, welche eine Änderung des heutigen Systems bedeuten würden.»
4. Die Zuwanderung ist auch eine Folge der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der erfolgreichen Standortpolitik:
«Massgeblich beeinflusst wird die Zuwanderung von der Wirtschaftslage im Vergleich zum Ausland. Zuwanderung kann somit über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit indirekt über die Standort- und Steuerpolitik beeinflusst werden. Diesbezüglich sind Unternehmen als Nutzniesser der liberalen Einwanderungspolitik im Rahmen der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU/EFTA besonders gefordert, in ihrer Rekrutierungspolitik den gesellschaftspolitischen Anforderungen an die zugewanderte Bevölkerung Rechnung zu tragen, diese zu berücksichtigen und Hand zu bieten für Integrationsangebote für die eigenen Angestellten.»
4. Die Zuwanderung macht Reformdruck sichtbar:
«Nebst den weitgehend positiven Auswirkungen der Zuwanderung wird aber auch das Bevölkerungswachstum beeinflusst, womit sich die Herausforderungen in der Integration, der Infrastruktur- und Raumplanung und der Bildungspolitik erhöhen.»
Der Bericht sieht insbesondere in drei Bereichen Handlungsbedarf und plädiert in Bezug auf die Förderung inländischer Fachkräfte sowie bei der Problematik der Wohnungsknappheit für politische Massnahmen, um die negativen Auswirkungen der Zuwanderung aufzufangen:
- «Der Bundesrat wird sich dafür einsetzen, dass die Versorgung der Schweizer Wirtschaft durch eine Aktivierung und Höherqualifizierung freier Potenziale in der Schweizer Erwerbsbevölkerung vermehrt durch Fachkräfte aus dem Inland gewährleistet werden kann. Indem beispielsweise Hindernisse bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beseitigt werden und ein tragfähiges familienergänzendes Betreuungssystem geschaffen wird, kann dem Fachkräftemangel und damit dem Zuwanderungsdruck teilweise begegnet werden.»
- «Der Bundesrat wird sich dafür einsetzen, dass in der Schweiz in Zukunft guter und erschwinglicher Wohnraum für die ganze Bevölkerung zur Verfügung steht. Die Annahme der Volksinitiative zur Beschränkung des Zweitwohnungsbaus hat ein Unbehagen in der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, das mitunter auch durch das starke Bevölkerungswachstum hervorgerufen wurde. Die Herausforderungen im Bereich der kantonalen Raumplanungsgesetzgebungen müssen daher auch im Lichte des aktuellen Bevölkerungswachstums betrachtet werden.»
- «Der Bundesrat wird sich zudem auch weiterhin – und dies noch intensiver als in der Vergangenheit – mit den Auswirkungen der Zuwanderung in die Schweiz befassen müssen. Er prüft zu diesem Zweck die Einsetzung eines interdepartementalen Fachausschusses, welcher sich regelmässig zu den offenen und kontroversen Fragen in Bezug auf die Auswirkungen der Zuwanderung ausspricht. In diesem Zusammenhang wird der Bundesrat zudem für die Schliessung bestehender und in diesem Bericht genannter Forschungslücken bemüht sein.»
Auswirkungen der Zuwanderung auf den Wohnungs- und Arbeitsmarkt im Kanton ZH
Mitte September publizierte der Kanton Zürich zwei vom Amt für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegebene Studien zu den Einflussfaktoren der Zuwanderung im Kanton Zürich. Die Ergebnisse würden die gängigen Vorstellungen zur Verdrängung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch die Zuwanderung differenzieren: «Die hoch qualifizierten Zuwanderer treiben die Preise auf dem Wohnungsmarkt zwar tatsächlich in die Höhe, sie sind aber auch diejenigen, welche die gestiegenen Preise zum grössten Teil bezahlen müssen. Eher überraschend ist auch das Ergebnis, dass Zuwanderinnen und Zuwanderer nicht in erster Linie eine Arbeitsstelle in Zürich antreten, weil in ihrem Herkunftsland die Situation schwierig ist. Zürcher Unternehmen werben diese häufig aktiv an wegen dem Fachkräftemangel. Insgesamt kommt es durch die Zuwanderung in den Kanton Zürich zu keinen wesentlichen Verdrängungseffekten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.»
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Bericht des Bundesrates vom 04. Juli 2012 | ejpd.admin.ch
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