LugÜ 5 Ziffer 3 / LugÜ 24 – Praxisänderung
Einleitung
Kernpunkt bildete im ersten Prozesslauf ans Bundesgericht das Feststellungsinteresse bei einer negativen Feststellungsklage im Geltungsbereich des Lugano-Übereinkommens (LugÜ) und nun im zweiten die Gerichtsstandswahl (Forum Shopping bzw. Handlungs- oder Erfolgsort).
Sachverhalt
Ein in Biel ansässiger Schweizerischer Uhrenkonzern und seine Tochtergesellschaften (Klägerinnen) führten ein selektives Vertriebssystem ein. Betroffen war eine ehemalige britische Grosshändlerin (Beklagte).
Mit Schreiben vom 16.03.2016 (» Notice of Termination of Wholesale Supplies – Letter Before Action «) forderte die Beklagte die Klägerinnen auf, bis am 06.04.2016 die Wiederaufnahme der Belieferung zu bestätigen, ansonsten ohne weitere Ankündigung Klage eingereicht würde. Dem Schreiben legte sie eine Eingabe » (Draft) Order » an den High Court of Justice in London bei. Dieses Vorgehen war nach englischem Recht insofern erforderlich, als ansonsten der Beklagten Kostenfolgen gedroht hätten.
Auf Ersuchen einer der Klägerinnen (Klägerin 3) erstreckte die Beklagte mit Schreiben vom 11.04.2016 die von ihr angesetzte Frist bis am 20.04.2016.
Am 19.04.2016 reichten die Klägerinnen die nun Streitgegenstand bildende negative Feststellungsklage beim Handelsgericht des Kantons Bern ein.
Mit Eingabe vom 29.04.2016 reichte die Beklagte ihrerseits beim High Court of Justice in London gegen die Klägerinnen Klage ein wegen Verletzung europäischen Kartellrechts.
Klagebegehren der Schweizerischen Uhrenkonzerns und ihrer Tochtergesellschaften
Mit Klage vom 19.04.2016 beim Handelsgericht des Kantons Bern beantragten die Klägerinnen:
«1. Es sei festzustellen, dass die Klägerinnen gegenüber der Beklagten keine Pflicht zur Belieferung mit Ersatzteilen für Produkte der Klägerinnen oder von mit diesen verbundenen Gesellschaften trifft.
- Es sei festzustellen, dass die Klägerinnen wegen Beendigung der Belieferung der Beklagten mit Ersatzteilen für Produkte der Klägerinnen oder von mit diesen verbundenen Gesellschaften per 31. Dezember 2015 der Beklagten nichts schulden, insbesondere keinen Schadenersatz.
- (…) »
Prozess-History
- Handelsgericht des Kantons Bern
- Das Handelsgericht des Kantons Bern beschränkte das Verfahren mit Verfügung vom 12.12.2016 auf die Fragen der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und des Feststellungsinteresses:
- Verneinung ein genügenden Feststellungsinteresses
- Nichteintreten mit Urteil vom 26.06.2017 auf die Klage, unter Offenlassung der Frage der internationalen und örtlichen Zuständigkeit
- Das Handelsgericht des Kantons Bern beschränkte das Verfahren mit Verfügung vom 12.12.2016 auf die Fragen der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und des Feststellungsinteresses:
- Bundesgericht
- Mit Urteil vom 14.03.2018 (BGE 144 III 175) schützte das Bundesgericht die von den Klägerinnen gegen das Urteil des Handelsgerichts erhobene Beschwerde und wies die Sache zu neuer Beurteilung an das Handelsgericht zurück:
- Begründung: Feststellung, dass im internationalen Verhältnis (unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs) das Interesse des Feststellungsklägers, bei bevorstehendem Gerichtsverfahren einen ihm genehmen Gerichtsstand zu sichern, als genügendes Rechtsschutzinteresse zu qualifizieren sei (Erw. 5.2-5.4)
- Mit Urteil vom 14.03.2018 (BGE 144 III 175) schützte das Bundesgericht die von den Klägerinnen gegen das Urteil des Handelsgerichts erhobene Beschwerde und wies die Sache zu neuer Beurteilung an das Handelsgericht zurück:
- Handelsgericht des Kantons Bern
- Mit Urteil vom 25.06.2018 trat das Handelsgericht Bern auf die Klage in Bezug auf die Klägerinnen 2 und 3 nicht ein (Disp.-Ziff. 1), auferlegte die diesbezüglichen Gerichtskosten von Fr. 8’000.– den Klägerinnen 2 und 3 (Disp.-Ziff. 2) und verpflichtete diese, der Beklagten unter solidarischer Haftbarkeit eine Parteientschädigung von Fr. 31’170.10 (keine MWSt) zu bezahlen (Disp.-Ziff. 3). In Bezug auf die Klägerin 1 bejahte es seine internationale und örtliche Zuständigkeit (Disp.-Ziff. 4) und schlug die diesbezüglichen Gerichts- und Parteikosten zur Hauptsache (Disp.-Ziff. 5).
- Begründung des Handelsgerichts
- Verneinung eines missbräuchlichen Verhaltens der Klägerinnen hinsichtlich der von ihnen beantragten Fristerstreckung zur Beantwortung des Schreibens der Beklagten vom 16.03.2016 und der anschliessenden Klageeinreichung in Bern
- Bestimmung der internationalen und die innerstaatlichen örtlichen Zuständigkeit nach Art. 5 Ziff. 3 Lugano-Übereinkommens (LugÜ, SR 0.275.12)
- Handlungsort im Sinn von LugÜ 5 Ziff. 3 LugÜ sei der Gründungsort des Kartells (hier Biel, wo am 26.11.2013 die Einführung des selektiven Vertriebssystems beschlossen worden sei)
- Absenz der Klägerinnen 2 und 3 bei dieser Beschlussfassung, weshalb es für die Klägerin 2 an der örtlichen Zuständigkeit und für die Klägerin 3 an der internationalen Zuständigkeit fehle
- Entfallen der örtlichen und internationalen Zuständigkeit des Handelsgerichts Bern für die Klage der Klägerin 1 wegen der fehlenden besonderen Sach- und Beweisnähe und mangels Massgeblichkeit des Kriteriums
- Entgegen der Beklagten stehe der Gerichtsstand am Handlungs- und am Erfolgsort auch offen, unabhängig davon, ob eine spiegelbildliche Leistungsklage nach LugÜ 5 Ziff. 3 am angerufenen Gericht ebenfalls möglich wäre (sog. Spiegelbildprinzip)
- Neuerliche Beschwerdegang ans Bundesgericht
- Sowohl die Beklagte sowie die Klägerinnen 2 und 3 haben gegen diesen Entscheid beim Bundesgericht Beschwerde in Zivilsachen erhoben.
Erwägungen
- Rechtsmissbrauch der Gerichtswahlmöglichkeit?
- Grundsatz
- Zur Rechtsmissbräuchlichkeit der Wahlmöglichkeit gemäss LugÜ 5 Ziffer 3 gelte, dass in internationalen Verhältnissen das Interesse des Feststellungsklägers an der Sicherung eines genehmen Gerichtsstands oder die Verfolgung dieses Interesses grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich sei
- Ausnahme
- Es könne aber im Einzelfall dennoch rechtsmissbräuchlich sein
- Grundsatz
- Forum Running-vertraute Parteien
- In Casu gab es – bei den geschäftserfahrenen und mit dem Forum Running vertrauten Parteien – keine Anhaltspunkte, dass Erwartungen hätten enttäuscht werden können, wenn während einer erstreckten Frist eine negative Feststellungsklage eingeleitet wird
- Praxisänderung
- Am bisherigen zusätzlichen Erfordernis der Sach- und Beweisnähe zur Einschränkung des aufgrund des Handlungs- oder Erfolgsorts grundsätzlich gegebenen Gerichtsstands werde im Sinne einer Praxisänderung nicht festgehalten. Sei ein Handlungs- oder Erfolgsorts identifiziert, bleibe somit kein Raum mehr für eine einzelfallbezogene Prüfung der Sach- und Beweisnähe
- Präzisierung
- Zur ErwägungBGE 125 III 346 4b S. 349 wurde präzisierend festgehalten, es sei damit gemeint gewesen, dass der Feststellungskläger gleich wie der Leistungskläger sich auf die Wahlgerichtsstände gemäss LugÜ 5 Ziffer 3 berufen könne
- Einlassung
- Mit Verweis aufBGE 133 III 295 5.1 wurde zur „Einlassung“ festgehalten, dass die Einlassung auf das Verfahren genüge und eine Einlassung in der Hauptsache nicht erforderlich sei
- Demnach könnten Einwendungen und Einreden zum Verfahren als Einlassung gemäss LugÜ 24 verstanden werden, ohne dass das Fehlen der internationalen Zuständigkeit ausdrücklich gerügt werde
- Aus der ersten Einlassung des Beklagten hätte für die Klägerinnen und das Gericht hervorgehen müssen, dass sich die Beklagte gegen die Zuständigkeit des Gerichts ausspreche
- Falls die Beklagte dargetan hätte, dass sie nicht unter die inländische Gerichtsbarkeit falle, bestreite sie die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und es läge keine Einlassung vor
- Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung durch einen Konzerns
- In Casu wurde der Beschluss zur Einführung eines selektiven Vertriebssystems von der erweiterten Konzernleitung am Sitz der Muttergesellschaft in Form der Klägerin 1 gefällt, wobei die Tochtergesellschaften in Form der Klägerinnen 2 und 3 nicht selbständig über die einzelnen Massnahmen entscheiden konnten, sondern die beschlossene Strategie des Konzern ausführten
- Die Anwesenheit von Vertretern der Tochtergesellschaften bei der Beschlussfassung am Sitz der Muttergesellschaft war nicht massgebend
- Der Sitz der Muttergesellschaft sei auch der Handlungsort für die Tochtergesellschaften
- Massgebend sei der Strategieentscheid, der von den Tochtergesellschaften umzusetzen gewesen sei, ansonsten eine Vielzahl von Handlungsorten bestünden.
Im Ergebnis müssten laut Bundesgericht die Klägerinnen gemeinsam eine negative Feststellungsklage an diesem Handlungsort geltend machen können.
Entscheid
- Vereinigung der beiden Verfahren
- Abweisung der Beschwerde BGer 4A_446/2018
- Gutheissung der Beschwerde BGer 4A_448/2018
- Teilweise Aufhebung des Entscheids der Vorinstanz und Rückweisung an sie
- Auferlegung der Gerichtskosten an die Beklagte, die die Klägerinnen zu entschädigen hat.
Quelle
BGer 4A_448/2018 / 4A_446/2018 vom 21.05.2019