Das Bundesgericht hat mit dem Urteil 5A_457/2018 entschieden, dass der Unterhaltsanspruch eines volljährigen Kindes in Ausbildung im Falle einer finanziellen Mankosituation hinter denjenigen eines unterhaltsberechtigten Ex-Ehegatten zurückzutreten habe. Das anfangs 2017 in Kraft getretene neue Unterhaltsrecht bilde keinen Grund, die bisherige Rechtsprechung in diesem Punkt zu ändern.
Das Appellationsgericht des Kantons Tessin hatte eine Frau 2018 im Rahmen des Scheidungsverfahrens zu Unterhaltszahlungen an ihren früheren Ehegatten verpflichtet. Sie hatte auch den Unterhalt für die minderjährige Tochter und die 1997 geborene volljährige Tochter in Ausbildung zu gewährleisten. Hieraus resultiere eine finanzielle Mankosituation. Den Unterhalt für den Ex-Ehemann hatte sie deshalb erst ab Ende der Ausbildung der älteren Tochter zu leisten.
Das Bundesgericht hiess in seiner öffentlichen Beratung vom Dienstag die dagegen erhobene Beschwerde des Ex-Ehemannes teilweise gut und wies die Sache zum neuen Entscheid ans Appellationsgericht des Kantons Tessin zurück. Bereits im Grundsatzurteil BGE 132 III 209 von 2006 hatte das Bundesgericht entschieden, dass im Falle einer Mankosituation ein allfälliger Unterhaltsanspruch des mündigen Kindes hinter denjenigen des Ehegatten zurückzutreten habe.
Das 2017 in Kraft getretene neue Unterhaltsrecht, darunter auch die Bestimmung von ZGB 276a, besagt zunächst, dass der Unterhaltsanspruch des unmündigen Kindes anderen familienrechtlichen Unterhaltspflichten vorgehe (Absatz 1), also auch dem Unterhaltsanspruch eines mündigen Kindes. Von dieser Regel kann das Gericht gemäss Absatz 2 der fraglichen Bestimmung in begründeten Fällen abweichen, insbesondere um eine Benachteiligung eines unterhaltsberechtigten volljährigen Kindes zu vermeiden.
Aus der Botschaft des Bundesrates zu ZGB 276a geht hervor, dass der Gesetzgeber damit das volljährige Kind in Ausbildung nicht mit dem minderjährigen Kind gleichsetzen wollte. Vielmehr zielte die Gesetzesrevision von Beginn weg nur auf den Unterhalt des minderjährigen Kindes ab. Demgegenüber sei die Hierarchie der Unterhaltsansprüche eines Ex-Ehegatten und eines volljährigen Kindes in Ausbildung kein Thema gewesen. Das Parlament lehnte denn auch einen Minderheitsantrag ab, mit dem verlangt wurde, dass auch den Unterhaltsansprüchen volljähriger Kinder in Ausbildung diesbezüglich Vorrang einzuräumen sei.
Urteil des Bundesgerichts vom 11.02.2020 (5A_457/2018) = BGE 146 III 169 ff.
Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 11.02.2020, 11.26 Uhr
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LawMedia Redaktionsteam
Art. 276a ZGB A. Allgemeines / II. Vorrang der Unterhaltspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind
II. Vorrang der Unterhaltspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind1 Die Unterhaltspflicht gegenüber dem minderjährigen Kind geht den anderen familienrechtlichen Unterhaltspflichten vor.
2 In begründeten Fällen kann das Gericht von dieser Regel absehen, insbesondere um eine Benachteiligung des unterhaltsberechtigten volljährigen Kindes zu vermeiden.