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Sozialversicherungsrecht

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Sozialhilfe: Präzisierung des Begriffs der sofort verfügbaren bzw. kurzfristig realisierbaren Mittel

Datum:
04.03.2020
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht
Stichworte:
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Erbanteil an Nachlass mit Immobilie in strittiger Erbteilung

Das Genfer Kantonsgericht verletzte im Fall 8C_444/2019 das durch BV 12 garantierte Recht auf Existenzsicherung, indem es Sozialhilfe-Übergangsleistungen mit der Begründung verweigerte, dass die Gesuchstellerin als Mitglied einer Erbengemeinschaft mit Immobilienbesitz über ein Vermögen verfüge, welches einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen ausschliesse. Nach Ansicht des Bundesgerichts bilde Grundeigentum einer Erbengemeinschaft, über welches eine Erbteilungsklage hängig sei, kein sofort oder kurzfristig verfügbares Vermögen und dürfe daher bei der Beurteilung der Bedürftigkeit einer Person nicht berücksichtigt werden.

Sachverhalt

Einer alleinstehenden Gesuchstellerin mit zwei Kindern, die als einziges Einkommen über eine Invalidenrente verfügte, wurde von den Genfer Behörden Sozialhilfeleistungen verweigert, obwohl sie nicht über die notwendigen Mittel für ein menschenwürdiges Dasein verfügte.

Prozess-History

Die zuständige Genfer Behörde hat die Auffassung vertreten, dass die Gesuchstellerin als Gesamteigentümerin einer Immobilie, die Gegenstand einer Teilungsklage bilde, die im Genfer Sozialhilfegesetz (loi sur l’insertion et l’aide sociale individuelle, LIASI) festgelegten Vermögensgrenzen für den Anspruch auf finanzielle Unterstützung überschreite. Der Entscheid der Sozialbehörden wurde vom Genfer Kantonsgericht bestätigt.

Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht gab folgendes zu bedenken:

  • Artikel 9 Abs. 3 LIASI GE sehe vor, dass die finanzielle Unterstützung ausnahmsweise als Vorschuss gewährt werden könne, insbesondere bis zur Liquidation eines Nachlasses
  • Das Kantonsgericht befand, dass diese Bestimmung keine zusätzliche finanzielle Leistung vorsehe, die sich von der allgemeinen finanziellen Unterstützung unterscheide
    • Es machte daher die Zahlung dieser finanziellen Übergangshilfe davon abhängig, dass die allgemeinen Voraussetzungen für den Sozialhilfeanspruch erfüllt seien, d.h. dass insbesondere bestimmte Vermögensgrenzen nicht überschritten würden
  • Nach Ansicht des Bundesgerichts habe das Kantonsgericht dadurch die fragliche Bestimmung ihres Sinnes entleert:
    • Wenn eine Person die Bedingungen für den Anspruch auf allgemeine finanzielle Leistungen erfülle, so habe sie kein Interesse daran, einen rückzahlbaren Vorschuss auf diese Leistungen zu beantragen
  • Gemäss Subsidiaritätsprinzip komme die kantonale Sozialhilfe und die Nothilfe nach BV 12 nur dann in Frage, wenn
    • die Person nicht selber für ihren Lebensunterhalt sorgen könne und
    • alle anderen verfügbaren Hilfsquellen nicht rechtzeitig bzw. nicht in ausreichendem Masse in Anspruch genommen werden könnten
  • Daher können bei der Bedürftigkeitsbeurteilung einer Person nur berücksichtigt werden:
    • die sofort verfügbaren oder kurzfristig realisierbaren Mittel.

Gemäss Bundesgericht ging das Kantonsgericht im vorliegenden Fall zu Unrecht davon aus, dass die Gesuchstellerin über Vermögenswerte verfüge, die einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen ausschliessen würden.

Grundeigentum einer Erbengemeinschaft, das Gegenstand einer Teilungsklage bilde,

  • stelle keine unmittelbar oder kurzfristig verfügbare Ressource dar und
  • könne daher bei der Beurteilung der Bedürftigkeit einer Person nicht berücksichtigt werden.

Die Gesuchstellerin habe daher auf der Grundlage des Genfer Sozialhilfegesetzes Anspruch auf ordentliche Sozialhilfeleistungen, die als Vorschuss zu leisten und zurückzuzahlen seien, sobald die Gesuchstellerin über ihren Anteil am Nachlass verfügen könne.

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut und wies den Fall an die zuständige Genfer Behörde zurück, damit sie den Umfang der finanziellen Leistungen berechnen könne, die der Gesuchstellerin unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und der kantonalen Vorschriften zu gewähren seien.

Urteil des Bundesgerichts vom 06.02.2020 (8C_444/2019)

Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 04.03.2020, 12.01 Uhr

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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