SVG 90 Abs. 2 und SVG 100 Ziffer 4
Sachverhalt
Genfer Polizisten (Fahrer und Beifahrerin) versuchten 2015 bei einer Verfolgungsfahrt innerorts mit 92 km/h Flüchtende, die einen Bankomaten in die Luft gesprengt hatten, vor dem Grenzübergang einzuholen.
Auf der Fahrt kurz vor vier Uhr in der Früh wurden sie innerorts zwei Mal geblitzt:
- das erste Mal: 30 km/h zu schnell
- das zweite Mal: 42 km/h zu schnell.
Zunächst mit Blaulicht und Polizeisirene unterwegs, schaltete die Kollegin den Ton nach einer Weile aus taktischen Gründen aus.
Prozess-History
- Erste Tempoüberschreitung (30 km/h)
- Verfahrenseinstellung durch den Staatsanwalt, weil die Fahrt als notwendige Dienstfahrt eingestuft wurde
- Zweite Tempoüberschreitung (42 km/h)
- Der Polizist wurde vom Genfer Kantonsgericht wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer Busse von CHF 600 verurteilt
- Anrufung des Bundesgerichts.
Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht erwog zusammengefasst folgendes:
- Erfordernis der Verhältnismässigkeit der Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit bei einer Dienstfahrt
- Güterabwägung
- Der Lenker hätte die nach den Umständen gebotene Sorgfalt und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten müssen, d.h. er hätte den Grad der Dringlichkeit der Dienstfahrt gegenüber der Schwere der von ihm begangenen Verkehrsregelverletzung (Geschwindigkeitsüberschreitung) abwägen müssen
- Je gefährlicher das Abweichen von der Verkehrsregel ist (hier Fahrt mit 92 km/h innerorts nur mit Blaulicht), umso grösser muss die zu beachtende Vorsicht sein
- Beispiel
- Dienstfahrt wegen Gefahr eines Menschenlebens: Schnellere Verfolgungsfahrt möglich als bei Gefährdung anderer Rechtsgüter wie hier Tresorsprengung
- Im konkreten Fall
- Der Polizist wusste, dass die Flüchtenden niemanden verletzt hatten
- Der Lenker hätte die nach den Umständen gebotene Sorgfalt und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten müssen, d.h. er hätte den Grad der Dringlichkeit der Dienstfahrt gegenüber der Schwere der von ihm begangenen Verkehrsregelverletzung (Geschwindigkeitsüberschreitung) abwägen müssen
- Güterabwägung
- Vorwurf des Bundesgerichts gegenüber dem Polizisten
- Trotz des öffentlichen Interesses, die Täter anzuhalten, hätte der Polizist die Geschwindigkeit anpassen müssen, um nicht dritte Personen zu gefährden.
Die Nichtbeachtung der Verhältnismässigkeit machte eine Bestrafung unumgänglich, wobei die Strafe aber gemildert werden konnte.
Entscheid des Bundesgerichts
- Bestätigung des vorinstanzlichen Entscheids.
Quelle
BGer 6B_1161/2018 vom 17.01.2020
Art. 90 SVG Verletzung der Verkehrsregeln
Verletzung der Verkehrsregeln
1 Mit Busse wird bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt.
2 Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
3 Mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren wird bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen.
4 Absatz 3 ist in jedem Fall erfüllt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wird um:
a. mindestens 40 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 30 km/h beträgt;
b. mindestens 50 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 50 km/h beträgt;
c. mindestens 60 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 80 km/h beträgt;
d. mindestens 80 km/h, wo die Höchstgeschwindigkeit mehr als 80 km/h beträgt.
5 Artikel 237 Ziffer 2 des Strafgesetzbuches2 findet in diesen Fällen keine Anwendung.
Art. 100 SVG Strafbarkeit
Strafbarkeit
1. Bestimmt es dieses Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist auch die fahrlässige Handlung strafbar.
In besonders leichten Fällen wird von der Strafe Umgang genommen.1
2. Der Arbeitgeber oder Vorgesetzte, der eine nach diesem Gesetz strafbare Handlung des Motorfahrzeugführers veranlasst oder nicht nach seinen Möglichkeiten verhindert hat, untersteht der gleichen Strafandrohung wie der Führer.2
Ist für die Tat nur Busse angedroht, so kann der Richter den Führer milder bestrafen oder von seiner Bestrafung Umgang nehmen, wenn die Umstände es rechtfertigen.
3. Für strafbare Handlungen auf Lernfahrten ist der Begleiter verantwortlich, wenn er die Pflichten verletzt hat, die ihm als Folge der Übernahme der Begleitung oblagen.
Der Fahrschüler ist verantwortlich, soweit er eine Widerhandlung nach dem Stand seiner Ausbildung hätte vermeiden können.
4. Missachtet der Führer eines Feuerwehr-, Sanitäts-, Polizei- oder Zollfahrzeugs auf dringlichen oder taktisch notwendigen Dienstfahrten Verkehrsregeln oder besondere Anordnungen für den Verkehr, so macht er sich nicht strafbar, wenn er alle Sorgfalt walten lässt, die nach den Umständen erforderlich ist. Auf dringlichen Dienstfahrten ist die Missachtung nur dann nicht strafbar, wenn der Führer zudem die erforderlichen Warnsignale abgibt; die Abgabe der Warnsignale ist ausnahmsweise nicht erforderlich, wenn sie der Erfüllung der gesetzlichen Aufgabe entgegensteht. Hat der Führer nicht die Sorgfalt walten lassen, die nach den Umständen erforderlich war, oder hat er auf dringlichen Dienstfahrten nicht die erforderlichen Warnsignale abgegeben, so kann die Strafe gemildert werden.
Weiterführende Informationen / Linktipps
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