SVG 55
Die vom Bundesrat (BR) resp. vom Bundesamt für Strassen (ASTRA) festgelegte Nulltoleranzregel für Cannabis im Strassenverkehr ist gemäss neuestem Entscheid des Bundesgerichts (BGer) nicht zu beanstanden.
Das BGer bestätigt daher seine Rechtsprechung und hat die Beschwerde eines Fahrzeuglenkers gegen seine Verurteilung wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand abgewiesen.
Sachverhalt
Bei einem Autolenker waren 2018 bei einer Polizeikontrolle Anzeichen von Drogenkonsum festgestellt worden:
- gerötete Augenbindehäute
- leicht schwankender Gang.
Die daraufhin angeordnete Blut- und Urinprobe ergab einen Wert von 4,4 Mikrogramm des Cannabis-Wirkstoffs THC pro Liter Blut (μg/L).
Prozess-History
Der Mann wurde 2021 vom Obergericht des Kantons Aargau wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse von CHF 300 verurteilt.
Argumente des Autolenkers
Der fehlbare Fahrzeuglenker argumentierte im Wesentlichen:
- Seine Fahrunfähigkeit sei zu Unrecht allein schon wegen der Überschreitung des THC-Grenzwerts von 1,5 μg/L bejaht worden
- Dieser Grenzwert besage nichts über die Wirkung der Substanz aus und sei zu tief angesetzt.
- Gemäss SVG 55 könne der BR für andere Substanzen als Alkohol Grenzwerte festlegen, bei deren Überschreitung eine Fahrunfähigkeit angenommen werde.
- Für Cannabis habe der BR resp. das ASTRA den Grenzwert aber auf Verordnungsebene auf 1,5 μg/L festgelegt.
- Dabei handle es sich um einen sog. Bestimmungsgrenzwert, der angebe, ab welcher Konzentration eine Substanz im Blut quantitativ überhaupt zuverlässig nachgewiesen werden könne.
- Bestimmungsgrenzwerte seien von Wirkungsgrenzwerten zu unterscheiden:
- Letztere würden – wie beim Alkohol – angeben, ab welcher Konzentration mit einer relevanten Einschränkung der Fahrfähigkeit gerechnet werden müsse.
Erwägungen des Bundesgericht
Das BGer überprüfe gemäss seinen Erwägungen Verordnungsregelungen des BR grundsätzlich nur darauf,
- ob sie sich im Rahmen der delegierten Kompetenzen halten würden oder,
- ob sie aus anderen Gründen gesetzes- oder verfassungswidrig seien.
Das BGer habe in diesem Sinne bereits in früheren Urteilen entschieden, dass
- der BR resp. das ASTRA bei Cannabis die ihnen delegierten Rechtsetzungsbefugnisse mit der fraglichen Nulltoleranz-Regelung nicht überschritten hätten;
- kein Anlass bestünde, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen.
Wohl werde die Nulltoleranz-Regelung bei Cannabis im Strassenverkehr bekanntlich in der Literatur kritisiert. Dabei würde aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Nulltoleranz-Regelung durchaus auf die Entstehungsgeschichte der massgebenden Delegationsnorm stützen könne:
- Tatsächlich sei in der Botschaft von 1999 zur Änderung des SVG in Bezug auf SVG 55 ausdrücklich erwähnt worden, dass es auch denkbar sei, einen Nullgrenzwert einzuführen.
- Unter Berücksichtigung des historischen Auslegungselements habe der BR resp. das ASTRA damit durchaus im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse gehandelt.
- Die getroffene Regelung sei zumindest nicht unhaltbar, zumal auch nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht zuverlässig gesagt werden könne, wie die THC-Konzentration im Blut und die tatsächliche Wirkung zusammenhängen würden.
Laut BGer möge der THC-Grenzwert im Strassenverkehr zwar diskussionswürdig sein, eine andere Lösung sei aber vertretbar oder sogar vorzuziehen. Der THC-Grenzwert werde dadurch aber nicht willkürlich.
Das BGer bestätigte schliesslich die Ansicht der Vorinstanz, wonach der Autolenker, der am Vortag Cannabis konsumiert hatte, angesichts der körperlichen Auffälligkeiten und der deutlichen Überschreitung des THC-Grenzwerts seine Fahrunfähigkeit in Kauf genommen habe.
Entscheid
Das BGer wies die Beschwerde des betroffenen Autolenkers ab.
Urteil des Bundesgerichts 6B_282/2021 vom 23.06.2021
Art. 55 SVG 118
1 Fahrzeugführer sowie an Unfällen beteiligte Strassenbenützer können einer Atemalkoholprobe unterzogen werden.
2 Weist die betroffene Person Anzeichen von Fahrunfähigkeit auf und sind diese nicht oder nicht allein auf Alkoholeinfluss zurückzuführen, so kann sie weiteren Voruntersuchungen, namentlich Urin- und Speichelproben unterzogen werden.
3 Eine Blutprobe muss angeordnet werden, wenn:119
-
- 120 Anzeichen von Fahrunfähigkeit vorliegen, die nicht auf Alkoholeinfluss zurückzuführen sind;
- die betroffene Person sich der Durchführung der Atemalkoholprobe widersetzt oder entzieht oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt;
- 121 die betroffene Person die Durchführung einer Blutalkoholanalyse verlangt.
3bis Eine Blutprobe kann angeordnet werden, wenn die Durchführung einer Atemalkoholprobe unmöglich oder nicht geeignet ist, um die Widerhandlung festzustellen. 122
4 Die Blutprobe kann aus wichtigen Gründen auch gegen den Willen der verdächtigten Person abgenommen werden. Andere Beweismittel für die Feststellung der Fahrunfähigkeit bleiben vorbehalten.
5 …123
6 Die Bundesversammlung legt in einer Verordnung fest:
-
- bei welcher Atemalkohol- und bei welcher Blutalkoholkonzentration unabhängig von weiteren Beweisen und individueller Alkoholverträglichkeit Fahrunfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes angenommen wird (Angetrunkenheit); und
- welche Atemalkohol- und welche Blutalkoholkonzentration als qualifiziert gelten.124
6bis Wurde sowohl die Atemalkoholkonzentration als auch die Blutalkoholkonzentration gemessen, so ist die Blutalkoholkonzentration massgebend.125
7 Der Bundesrat:
-
- kann für andere die Fahrfähigkeit herabsetzende Substanzen festlegen, bei welchen Konzentrationen im Blut unabhängig von weiteren Beweisen und individueller Verträglichkeit Fahrunfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes angenommen wird;
- erlässt Vorschriften über die Voruntersuchungen (Abs. 2), das Vorgehen bei der Atemalkohol- und der Blutprobe, die Auswertung dieser Proben und die zusätzliche ärztliche Untersuchung der der Fahrunfähigkeit verdächtigten Person;
- kann vorschreiben, dass zur Feststellung einer Sucht, welche die Fahreignung einer Person herabsetzt, nach diesem Artikel gewonnene Proben, namentlich Blut-, Haar- und Nagelproben, ausgewertet werden.
118 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 14. Dez. 2001, in Kraft seit 1. Jan. 2005 (AS 2002 2767, 2004 2849; BBl 1999 4462).
119 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
120 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
121 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
122 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
123 Aufgehoben durch Anhang 1 Ziff. II 21 der Strafprozessordnung vom 5. Okt. 2007, mit Wirkung seit 1. Jan. 2011 (AS 2010 1881; BBl 2006 1085).
124 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
125 Eingefügt durch Ziff. II 12 des BG vom 20. März 2009 über die Bahnreform 2 (AS 2009 5597; BBl 2005 2415, 2007 2681). Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 15. Juni 2012, in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2012 6291, 2015 2583; BBl 2010 8447).
Weiterführende Informationen / Linktipps
- BGer 6B_136/2010 | bger.ch
- BGer 1C_862/2013 | bger.ch
Quelle
LawMedia Redaktionsteam