SVG 51; SVG 55; SVG 92
Sachverhalt
Mit Strafbefehl vom 8. November 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft Sursee A.________ wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden zu einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen und Fr. 2’500.– Busse.
Prozess-History
- Bezirksgericht Willisau
- Auf die Einsprache von A.________hin reduzierte das Bezirksgericht Willisau die bedingte Geldstrafe am 25. Juni 2020 auf 65 Tagessätze und die Verbindungsbusse auf Fr. 1’650.–. Ausserdem sprach es eine Übertretungsbusse von Fr. 650.– aus.
- Kantonsgericht des Kantons Luzern
- Das Kantonsgericht Luzern wies die Berufung von A.________ am 2. Februar 2021 ab.
- Bundesgericht
- Mit Beschwerde in Strafsachen beantragte A.________, er sei freizusprechen, eventualiter sei die Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen.
Erwägungen des Bundesgerichts
Vorbringen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer A.________ machte folgendes geltend:
- Der Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall sei nicht erfüllt,
- da gemäss Feststellung der Vorinstanz kein Sachschaden erstellt sei.
- Essei sein Anspruch auf rechtliches Gehör resp. auf Beweisergänzung verletzt.
- Essei nicht erstellt, dass sich der Beschwerdeführer einer Atemalkoholprobe widersetzt oder entzogen habe.
Unfallereignis?
- Pflicht zu sofortigem Anhalten bei einem Unfall
- Ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug oder Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten (SVG 51 Abs. 1 erster Satz).
- Blosser Sachschaden
- Ist nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben.
- Unmöglichkeit, den Geschädigten zu benachrichtigen
- Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen (SVG 51 Abs. 3).
- Dies gilt auch, wenn der Schaden nur ein verhältnismässig geringes Ausmass erreicht (…).
Anhaltepflicht / Vergewisserungspflicht?
- Relation SVG 51 Abs. 2 zu SVG 51 Abs. 1
- Die in SVG 51 Abs. 3 genannten Pflichten schliessen an die Verhaltenspflichten gemäss Abs. 1 derselben Bestimmung an.
- Unverzügliches Anhalten
- Nur wenn der beteiligte Motorfahrzeug- oder Fahrradlenker unverzüglich anhält, kann geklärt werden, ob ein Schaden entstanden ist.
- Anhalten als Voraussetzung für die weiteren Pflichten auf der Unfallstelle
- Das Anhalten ist mithin die Voraussetzung für die Erfüllung der weiteren Pflichten auf der Unfallstelle (…).
- Weiterfahren ohne Vergewisserung eines Sach- oder Personenschadens
- Ein Unfallbeteiligter, der weiterfährt, ohne sich zu vergewissern, ob ein Sach- oder Personenschaden eingetreten ist, macht sich daher unabhängig davon strafbar, ob sich nachträglich ein Schaden herausstellt (…).
- Entfallen der Vergewisserungspflicht
- Die Pflicht entfällt nur, wenn von vornherein zweifelsfrei feststeht, dass kein Fremdschaden eingetreten ist (…).
- Meldepflicht zur Benachrichtigung von Geschädigtem oder Polizei nur bei effektivem Schaden
- Hält der Fahrzeuglenker an und unterlässt er die Benachrichtigung des Geschädigten oder der Polizei, verletzt er nach dem Wortlaut des Gesetzes seine Pflichten gemäss SVG 51 Abs. 3 nur, wenn tatsächlich ein Sachschaden entstanden ist (…).
Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit?
- Straftatbestand
- Der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gemäss SVG 91a Abs. 1 macht sich schuldig, wer sich als Motorfahrzeugführer vorsätzlich einer Blutprobe, einer Atemalkoholprobe oder einer anderen vom Bundesrat geregelten Voruntersuchung, die angeordnet wurde oder mit deren Anordnung gerechnet werden musste, oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzt oder entzogen hat oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelt hat.
- Objektiv erfüllter Tatbestand?
- Voraussetzungen
- Die Unterlassung der sofortigen Meldung eines Unfalls an die Polizei erfüllt den objektiven Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, wenn
- (1) der Fahrzeuglenker gemäss SVG 51 zur sofortigen Meldung verpflichtet ist,
- (2) die Meldepflicht der Abklärung des Unfalls und damit allenfalls auch der Ermittlung des Zustands des Fahrzeuglenkers dient (Zweckzusammenhang),
- (3) die Benachrichtigung der Polizei möglich war und
- (4) bei objektiver Betrachtung aller Umstände die Polizei bei Meldung des Unfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Atemalkoholkontrolle angeordnet hätte (…).
- Die Unterlassung der sofortigen Meldung eines Unfalls an die Polizei erfüllt den objektiven Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, wenn
- Neue Rechtsprechung
- Während die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer solchen Untersuchungsmassnahme nach der bisherigen Rechtsprechung von den konkreten Umständen des Falles (Art, Schwere und Hergang des Unfalls, Zustand sowie Verhalten des Fahrzeuglenkers vor und nach dem Unfall) abhängig gemacht wurde (…),
- muss nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung
- grundsätzlich bereits mit der Anordnung einer Atemalkoholkontrolle gerechnet werden, wenn ein Fahrzeugführer in einen Unfall verwickelt ist (…; vgl. SVG 55 Abs. 1).
- muss nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung
- Während die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer solchen Untersuchungsmassnahme nach der bisherigen Rechtsprechung von den konkreten Umständen des Falles (Art, Schwere und Hergang des Unfalls, Zustand sowie Verhalten des Fahrzeuglenkers vor und nach dem Unfall) abhängig gemacht wurde (…),
- Ausnahme
- Fahrzeuglenkerunabhängige Kollision
- Anders verhält es sich (nur), wenn die Kollision zweifelsfrei auf einen vom Fahrzeuglenker unabhängigen Umstand zurückzuführen ist (…).
- Fahrzeuglenkerunabhängige Kollision
- Vom BGer frei überprüfbare Rechtsfrage
-
- Ob eine Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit sehr wahrscheinlich ist, gilt als eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei überprüft (…).
-
- Voraussetzungen
- Subjektiv erfüllter Tatbestand?
- Allgemein
- Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei Eventualvorsatz genügt (…).
- Voraussetzungen
- Der subjektive Tatbestand gilt als gegeben,
- wenn der Fahrzeuglenker die die Meldepflicht sowie die hohe Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer Blutprobe begründenden Tatsachen kannte und
- wenn daher die Unterlassung der gemäss SVG 51 vorgeschriebenen und ohne Weiteres möglichen Meldung an die Polizei vernünftigerweise nur als Inkaufnahme der Vereitelung einer Blutprobe gewertet werden kann (…).
- Der subjektive Tatbestand gilt als gegeben,
- Allgemein
Im konkreten Fall
Nach dem zum Sachverhalt Gesagten rügt der Beschwerdeführer A.________ zu Recht, dass
- er – mangels eines erwiesenen und durch ihn verursachten Sachschadens am Fahrzeug von B.________ aufgrund des Touchierens – weder zu einer Meldung an die Polizei noch an die vermeintliche Geschädigte verpflichtet war;
- er erwiesenermassen nach dem Unfallereignis angehalten und sich, wenn auch nur kurz, vergewissert habe, ob ein Sach- oder Personenschaden eingetreten sei.
- er gemäss Feststellungen der Vorinstanz um sein Auto herumging und nachschaute, nachdem er von der mutmasslichen Geschädigten, die den Vorgang beobachtet hatte, darauf angesprochen worden war, ob es zu einem Schaden gekommen war.
Der Beschwerdeführer war damit, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, seiner Pflicht gemäss SVG 51 hinreichend nachgekommen.
Dies galt umso mehr, als A.________ gegenüber der mutmasslichen Geschädigten
- Angaben machte zu
- Namen, Vornamen und Versicherung
- anbot,
- für einen allfälligen Schaden aufzukommen.
Die Vorinstanz unterstellte A.________ denn auch gar nicht, dass er sich habe vom Unfallort entfernen wollen.
Damit war der Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall objektiv nicht erfüllt.
Da der Beschwerdeführer, mangels eines Sach- oder Personenschadens, somit nicht zu einer Meldung an die Polizei oder die vermeintliche Geschädigte verpflichtet war, war auch der objektive Tatbestand der Vereitelung einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit nicht erfüllt.
Fazit
Das BGer kam zum Ergebnis, dass
- der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletze und aufzuheben sei;
- der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freizusprechen sei;
- ausgangsgemäss keine Kosten zu erheben seien;
- der Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung gemäss Kostennote seines Rechtsvertreters vom 3. Mai 2021 (BGG 66 Abs. 1 und 4; BGG 68);
- die Sache ist zur Neuregelung der kantonalen Kosten an die Vorinstanz zurückzuweisen sei.
Entscheid des Bundesgerichts
- Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 2. Februar 2021 wird aufgehoben. Der Beschwerdeführer wird von den Vorwürfen des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden und der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit freigesprochen. Die Sache wird zur Neuregelung der kantonalen Kosten an das Kantonsgericht zurückgewiesen.
- Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
- Der Kanton Luzern bezahlt dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren Fr. 2’595.55 Parteientschädigung.
- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
BGer 6B_470/2021 vom 27.09.2021
Weiterführende Informationen
4. Abschnitt: Verhalten bei Unfällen
Art. 51 SVG
1 Ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug oder Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten. Sie haben nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen.
2 Sind Personen verletzt, so haben alle Beteiligten für Hilfe zu sorgen, Unbeteiligte, soweit es ihnen zumutbar ist. Die Beteiligten, in erster Linie die Fahrzeugführer, haben die Polizei zu benachrichtigen. Alle Beteiligten, namentlich auch Mitfahrende, haben bei der Feststellung des Tatbestandes mitzuwirken. Ohne Zustimmung der Polizei dürfen sie die Unfallstelle nur verlassen, soweit sie selbst Hilfe benötigen, oder um Hilfe oder die Polizei herbeizurufen.
3 Ist nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen.
4 Bei Unfällen auf Bahnübergängen haben die Beteiligten die Bahnverwaltung unverzüglich zu benachrichtigen.
Art. 55 SVG
1 Fahrzeugführer sowie an Unfällen beteiligte Strassenbenützer können einer Atemalkoholprobe unterzogen werden.
2 Weist die betroffene Person Anzeichen von Fahrunfähigkeit auf und sind diese nicht oder nicht allein auf Alkoholeinfluss zurückzuführen, so kann sie weiteren Voruntersuchungen, namentlich Urin- und Speichelproben unterzogen werden.
3 Eine Blutprobe muss angeordnet werden, wenn:119
a. Anzeichen von Fahrunfähigkeit vorliegen, die nicht auf Alkoholeinfluss zurückzuführen sind;
b. die betroffene Person sich der Durchführung der Atemalkoholprobe widersetzt oder entzieht oder den Zweck dieser Massnahme vereitelt;
c. die betroffene Person die Durchführung einer Blutalkoholanalyse verlangt.
3bis Eine Blutprobe kann angeordnet werden, wenn die Durchführung einer Atemalkoholprobe unmöglich oder nicht geeignet ist, um die Widerhandlung festzustellen.
4 Die Blutprobe kann aus wichtigen Gründen auch gegen den Willen der verdächtigten Person abgenommen werden. Andere Beweismittel für die Feststellung der Fahrunfähigkeit bleiben vorbehalten.
5 …
6 Die Bundesversammlung legt in einer Verordnung fest:
a. bei welcher Atemalkohol- und bei welcher Blutalkoholkonzentration unabhängig von weiteren Beweisen und individueller Alkoholverträglichkeit Fahrunfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes angenommen wird (Angetrunkenheit); und
b. welche Atemalkohol- und welche Blutalkoholkonzentration als qualifiziert gelten.124
6bis Wurde sowohl die Atemalkoholkonzentration als auch die Blutalkoholkonzentration gemessen, so ist die Blutalkoholkonzentration massgebend.125
7 Der Bundesrat:
a. kann für andere die Fahrfähigkeit herabsetzende Substanzen festlegen, bei welchen Konzentrationen im Blut unabhängig von weiteren Beweisen und individueller Verträglichkeit Fahrunfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes angenommen wird;
b. erlässt Vorschriften über die Voruntersuchungen (Abs. 2), das Vorgehen bei der Atemalkohol- und der Blutprobe, die Auswertung dieser Proben und die zusätzliche ärztliche Untersuchung der der Fahrunfähigkeit verdächtigten Person;
c. kann vorschreiben, dass zur Feststellung einer Sucht, welche die Fahreignung einer Person herabsetzt, nach diesem Artikel gewonnene Proben, namentlich Blut-, Haar- und Nagelproben, ausgewertet werden.
Pflichtwidriges Verhalten bei Unfall
Art. 92 SVG
1 Mit Busse wird bestraft, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm dieses Gesetz auferlegt.
2 Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer als Fahrzeugführer bei einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat und die Flucht ergreift.
Quelle
LawMedia Redaktionsteam