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Sozialversicherungsrecht

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Assistenzbeitrag: Unsachgerechte Standardwerte bei «Erziehung und Kinderbetreuung»

Datum:
28.09.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht
Stichworte:
Assistenzbeitrag, Bundesrechtswidrigkeit, FAKT2, Kinderbetreuung
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Präzisierung von BGE 140 V 543 ff.

Die Standardwerte im Bereich «Erziehung und Kinderbetreuung» zur Festlegung des Assistenzbeitrags sind nicht sachgerecht.

Das Bundesgericht hiess daher die Beschwerde einer alleinerziehenden körperbehinderten Frau mit zwei Kindern teilweise gut.

Sachverhalt

«Die 1973 geborene A.________, Mutter zweier Kinder (geboren im Juli 2014 resp. im März 2017), ist seit einem Unfall im Jahr 1994 Paraplegikerin. Sie bezieht deswegen von der Invalidenversicherung insbesondere eine Dreiviertelsrente und eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit.

Mit Verfügung vom 9. Dezember 2014 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich einen Assistenzbeitrag von monatlich Fr. 2393.75 resp. jährlich Fr. 26’331.25 ab Juli 2014 zu. Im November 2015 ersuchte A.________ um Erhöhung des Assistenzbeitrags. Nach Abklärungen erhöhte die IV-Stelle den Assistenzbeitrag mit Verfügung vom 17. Januar 2017 auf monatlich Fr. 2866.05 resp. jährlich Fr. 31’526.55 ab dem 1. November 2015. Diese Verfügung hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil IV.2017.00221 vom 10. Juli 2018 auf; es wies die Sache zur Neuberechnung im Sinne der Erwägungen und neuen Verfügung an die Verwaltung zurück. Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Bundesgericht mit Urteil 9C_648/2018 vom 27. September 2018 nicht ein.

Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens legte die IV-Stelle den Assistenzbeitrag mit vier Verfügungen vom 2. September 2020 wie folgt fest: monatlich Fr. 3015.10 resp. jährlich Fr. 33’166.10 ab dem 1. November 2015 («Umsetzung SVG Urteil vom 10. Juli 2018»); monatlich Fr. 3144.40 (resp. jährlich Fr. 34’588.40) ab dem 1. April 2017 («Anpassung 2. Kind»); monatlich Fr. 3485.60 resp. jährlich Fr. 41’827.20 ab dem 1. Juli 2017 («Anpassung Wohnsituation per 1. Juli 2017»); monatlich Fr. 3819.20 resp. jährlich Fr. 45’830.40 ab dem 1. August 2018 («Anpassung Kind 4-jährig»).»

Prozess-History

  • Behörde
    • IV-Stelle des Kantons Zürich (siehe «Sachverhalt» oben)
  • Kantonale Instanzen
    • Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil IV.2020.00683 vom 30. August 2021 ab.
  • Bundesgericht
    • A.________ liess mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 30 August 2021 und der diesem zugrunde liegenden Verfügungen sei ihr der höchstmögliche Ansatz von 180 Stunden pro Monat zu vergüten, abzüglich der Hilflosenentschädigung, zuzüglich der Pauschale für die Nacht.

Erwägungen des Bundesgerichts (BGer)

Das BGer in Luzern erwog folgendes:

  • Anspruch auf IV-Assistenzbeitrag
    • Zu Hause lebende BezügerInnen einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung können einen Assistenzbeitrag beantragen.
    • Gewährt wird ein Assistenzbeitrag für Hilfestellungen Dritter, auf welche die betroffene Person zur Bewältigung des Alltags ausserhalb einer Heimstruktur angewiesen ist.
  • Hilfsbedarfsfestlegung
    • Die Festlegung des individuellen Hilfebedarfs erfolgt mit dem standardisierten Abklärungsinstrument FAKT2.
  • Festlegungsmethode
    • Mit FAKT2 wird der gesamte Hilfebedarf festgelegt:
      • für verschiedene Lebensbereiche und
      • abgestuft nach den Einschränkungen der betroffenen Person
      • anhand vorgegebener Minutenwerte.
  • Bisherige Rechtsprechung
    • Das BGer hatte in BGE 140 V 543 festgehalten, dass FAKT2 grundsätzlich ein geeignetes Instrument zur Ermittlung des gesamten Hilfebedarfs einer Person darstelle.

Laut BGer ist die in Bezug auf den Lebensbereich «Erziehung und Kinderbetreuung» gemäss diesem neuen Entscheid zu relativieren:

  • Minutenwerte nicht sachgerecht
    • Die im Bereich «Erziehung und Kinderbetreuung» vorgegebenen Minutenwerte sind laut BGer nicht sachgerecht.
  • Quantitativ der Dritthilfe gemäss FAKT2
    • Bei einer Person, die umfassende Dritthilfe benötigt, betrage der maximale Hilfebedarf im Bereich «Erziehung und Kinderbetreuung» gemäss FAKT2
      • lediglich 14 Stunden pro Woche.
  • Quantitativ gemäss Schweizerischer Arbeitskräfteerhebung
    • Laut BGer ergebe sich beispielsweise aus der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE), dass im Jahr 2020 in Haushalten mit Kindern der durchschnittliche Zeitaufwand für die Kinderbetreuung
      • bei Frauen 23 Stunden pro Woche betrug;
      • bei Männern 14,8 Stunden pro Woche betrug.
    • Auch werde in FAKT2 nicht berücksichtigt:
      • die Anzahl der Kinder;
      • die An- oder Abwesenheit eines anderen Elternteils.
  • Beurteilung der Pos. «Erziehung und Kinderbetreuung» in FAKT2
    • Die Position «Erziehung und Kinderbetreuung» in FAKT2 erweise sich damit als bundesrechtswidrig und es sei die Beschwerde daher teilweise gutzuheissen.

Die zuständige IV-Stelle werde daher

  • weitere Abklärungen zum Hilfebedarf im Bereich «Erziehung und Kinderbetreuung» treffen und
  • neu entscheiden müssen.

Entscheid des Bundesgerichts (BGer)

  1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. August 2021 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 2. September 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
  2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
  3. Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
  4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
  5. (Mitteilungen)

BGer 9C_538/2021 vom 06.09.2022

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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