BV 30 Abs. 1; EMRK 6 Ziffer 1
In vielen Kantonen werden Gerichtsschreiber als Ersatzrichter eingesetzt. Immer wieder wird dabei von Parteivertretern eine Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit durch gerichtsinterne Hierarchien befürchtet.
Das Bundesgericht (BGer) hatte sich im Fall 1B_420/2022 detailliert mit der Frage zu befassen, ob der Einsatz eines Gerichtschreibers der entscheidenden Kammer als Ersatzrichter den Anspruch auf einen unabhängigen Richter verletze.
Es kam zum Schluss, dass die Einsetzung eines Gerichtsschreibers der entscheidenden Kammer als Ersatzrichter (in ebendieser Kammer) den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein unabhängiges Gericht gemäss BV 30 Abs. 1 und EMRK 6 Ziff. 1 verletzte.
Dieser Anspruch sei zwar formeller Natur, weshalb seine Verletzung ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zu folgendem führe:
- zur Gutheissung der Beschwerde und
- zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers entstehe
- keine Nichtigkeit des angefochtenen Entscheids.
Der Einsatz des Ersatzoberrichters im vorinstanzlichen Spruchkörper sei zwar mit BV 30 Abs. 1 und EMRK 6 Ziff. 1 unvereinbar, aber es handle sich bei solchen Ersatzrichtern indessen nichtsdestotrotz um gewählte und damit demokratisch legitimierte Gerichtspersonen.
Ergebnis
- Ein hauptamtlicher Gerichtsschreiber darf nicht auch als Ersatzrichter am gleichen Gericht amten.
BGer 1B_420/2022 vom 09.09.2022
Weiterführende Informationen
Art. 30 BV Gerichtliche Verfahren
1 Jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, hat Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt.
2 Jede Person, gegen die eine Zivilklage erhoben wird, hat Anspruch darauf, dass die Sache vom Gericht des Wohnsitzes beurteilt wird. Das Gesetz kann einen anderen Gerichtsstand vorsehen.
3 Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung sind öffentlich. Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen.
Art. 6 EMRK Recht auf ein faires Verfahren
(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
Quelle
LawMedia Redaktionsteam