BGer passt seine Praxis dem neuen gesetzgeberischen Willen an
Die Staatsanwaltschaft verfügt über kein Beschwerderecht gegen Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte über
- Anordnung,
- Verlängerung und
- Aufhebung
von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft gegen Beschuldigte.
Das Bundesgericht (BGer) passt seine Praxis per sofort an:
- Mit dem Entscheid des Parlaments, bei der Revision der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) der Staatsanwaltschaft kein Beschwerderecht einzuräumen,
- hat der Gesetzgeber klar seinen Willen zum Ausdruck gebracht,
- die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht zu übernehmen.
- hat der Gesetzgeber klar seinen Willen zum Ausdruck gebracht,
Sachverhalt
Im konkreten Fall wurde der Beschwerdeführer im Februar 2022 wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft genommen.
Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau ordnete im Oktober 2022 seine unverzügliche Haftentlassung an.
Prozess-History
- Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gut.
- Im November 2022 wies das Zwangsmassnahmengericht ein Gesuch der Staatsanwaltschaft um Haftverlängerung ab.
- Das Obergericht hiess ihre Beschwerde wiederum gut.
Erwägungen
Artikel 222 der Schweizerischen Strafprozessordung (StPO) sieht vor, dass die verhaftete Person gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft Beschwerde erheben kann.
Ein entsprechendes Beschwerderecht für die Staatsanwaltschaft sieht die StPO nicht vor.
Das BGer entschied 2011 in einem Grundsatzurteil,
- dass dieses Schweigen der StPO auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhe;
- dass im Interesse einer funktionierenden Strafjustiz in solchen Fällen ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft notwendig sei.
Im Rahmen der aktuellen Revision der StPO (voraussichtliches Inkrafttreten per 01.01.2024) hat sich der Gesetzgeber in Kenntnis der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis gegen ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Entscheide über die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft ausgesprochen.
Damit wurde der gesetzgeberische Wille unmissverständlich zum Ausdruck gebracht:
- Die nun veränderte Situation erfordert in Anbetracht der Gewaltenteilung eine unverzügliche Anpassung der Rechtsprechung.
- Die bisherige Praxis zum staatsanwaltschaftlichen Beschwerderecht gegen Haftentscheide des Zwangsmassnahmengerichts ist laut BGer daher per sofort aufzugeben.
In casu:
- Das Obergericht des Kantons Aargau hätte in Anbetracht dieser Anpassung der Praxis auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft nicht eintreten dürfen.
- Dies hat indessen nicht die sofortige Haftentlassung des Beschwerdeführers zur Folge.
- Da es sich um eine nicht vorhersehbare Anpassung der Rechtsprechung handelt,
- muss das Zwangsmassnahmengericht neu über die Haftentlassung befinden.
- Dabei stellt sich die Frage, ob es gleich entschieden hätte, wenn es darum gewusst hätte, dass sein Entscheid ohne Anfechtungsmöglichkeit sofort rechtskräftig werden würde.
- muss das Zwangsmassnahmengericht neu über die Haftentlassung befinden.
Entscheide
Das BGer hat die dagegen erhobenen Beschwerden des Mannes teilweise gutgeheissen.
BGer 1B_614/2022 + 1B_628/2022 vom 10.01.2023 = BGE 149 IV 135 ff.
nArt. 222 StPO Rechtsmittel
Einzig die verhaftete Person kann Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Vorbehalten bleibt Artikel 233.
Quelle: Revidierte Bestimmungen der Schweizerischen Strafprozessordnung im Bundesblatt (BBl 2022 1560) | admin.ch
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam