ZPO 84 Abs. 1; ZPO 85 Abs. 1; ZPO 221 Abs. 1 lit. b und ZPO 244 Abs. 1 lit. b
Verfahrensbeteiligte
A.________ AG,
vertreten durch Rechtsanwalt D.H., Beschwerdeführerin,
gegen
Konkursmasse der B.________ AG in Liquidation,
handelnd durch Betreibungs- und Konkursamt der Region Plessur,
wiederum vertreten durch
Rechtsanwalt D.G.,
Beschwerdegegnerin.
Sachverhalt
Der vorliegenden Streitigkeit liegt eine Klage aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit der Konkursmasse einer AG in Liquidation (Beschwerdegegnerin) gegen eine Revisionsgesellschaft (AG, Beschwerdeführerin) zugrunde.
Prozess-History
- Regionalgericht Plessur (Erste Instanz)
- Die Beschwerdegegnerin (Konkursmasse) verlangte gestützt auf OR 755 (Revisionshaftung), es sei die Beschwerdeführerin zu verurteilen, ihr «einen CHF 100 000.00 übersteigenden Betrag» zu bezahlen.
- In der Klageschrift wies der Vertreter der Konkurmasse auf ZPO 85 hin und führte aus, dass der Schadensbetrag «erst nach dem Beweisverfahren, d.h. nach Vorliegen des Expertengutachtens», bestimmt werden könne.
- Das Regionalgericht Plessur
- beschränkte das Verfahren auf die Eintretensfrage,
- wies den Nichteintretensantrag der Beschwerdeführerin (Revisionsstelle) ab und
- kam zum Schluss, dass das unbeziffert gestellte Klagebegehren zulässig sei.
- Kantonsgericht des Kantons Graubünden (Zweite Instanz)
- Die von der Beschwerdeführerin (Revisionsstelle) gegen den erstinstanzlichen Entscheid erhobene Berufung wies das Kantonsgericht von Graubünden mit Urteil vom 30. September 2021 ab, soweit es darauf eintrat.
- Bundesgericht
- Die Beschwerdeführerin verlangte mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, II. Zivilkammer, vom 30. September 2021 (ZK2 19 71) sei aufzuheben und auf die Klage sei nicht einzutreten. Sie hält an ihrer Auffassung fest, wonach das Klagebegehren nicht hinreichend beziffert sei und folglich eine Prozessvoraussetzung nicht gegeben sei.
Erwägungen
Das BGer klärte in concreto die Frage,
- zu welchem Zeitpunkt zu begründen sei,
- weshalb eine Bezifferung des Klagebegehrens nicht möglich oder nicht zumutbar sei und begründete dies wie folgt:
Berufe sich die klagende Partei auf eine Ausnahme von der Bezifferungspflicht,
- habe sie bereits in der Klageschrift aufzuzeigen,
- dass die Bedingungen nach ZPO 85 Abs. 1 für eine unbezifferte Forderungsklage erfüllt sind;
- genüge ein blosser Hinweis auf fehlende Informationen nicht;
- müsse die Klägerin bereits in der Klageschrift konkret darlegen, weshalb es ihr aus objektiven Gründen unmöglich oder wenigstens unzumutbar sei, die Klageforderung zu beziffern,
- andernfalls sei
- auf eine bewusst nicht bezifferte Klage nicht einzutreten,
- und zwar
- ohne vorgängige Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht gemäss ZPO 56 und
- ohne Ansetzung einer Nachfrist gemäss ZPO 132
- andernfalls sei
Der pauschale Verweis auf angeblich mangelnde, beweismässig noch zu erstellende Informationen genüge nicht, weshalb die Klageschrift im vorliegenden Falle den erwähnten Anforderungen nicht genüge.
Fazit:
Das Kantonsgericht hätte auf die nicht bezifferte Klage nicht eingetreten werden dürfen; indem es den erstinstanzlichen Eintretensentscheid dennoch schützte, verletzte es Bundesrecht.
Die Rüge der Beschwerdeführerin war damit begründet.
Entscheid
- Gutheissung der Beschwerde;
- Nichteintreten auf die Klage der Konkursmasse der AG in Liquidation;
- Rückweisung der Sache zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an das Kantonsgericht;
- Auflage der Kosten an die Beschwerdegegnerin; Entschädigung der Beschwerdeführerin.
6. Titel: Klagen
Art. 84 ZPO Leistungsklage
1 Mit der Leistungsklage verlangt die klagende Partei die Verurteilung der beklagten Partei zu einem bestimmten Tun, Unterlassen oder Dulden.
2 Wird die Bezahlung eines Geldbetrages verlangt, so ist dieser zu beziffern.
Art. 85 ZPO Unbezifferte Forderungsklage
1 Ist es der klagenden Partei unmöglich oder unzumutbar, ihre Forderung bereits zu Beginn des Prozesses zu beziffern, so kann sie eine unbezifferte Forderungsklage erheben. Sie muss jedoch einen Mindestwert angeben, der als vorläufiger Streitwert gilt.
2 Die Forderung ist zu beziffern, sobald die klagende Partei nach Abschluss des Beweisverfahrens oder nach Auskunftserteilung durch die beklagte Partei dazu in der Lage ist. Das angerufene Gericht bleibt zuständig, auch wenn der Streitwert die sachliche Zuständigkeit übersteigt.