OR 259d
Ein Baugerüst für Renovationsarbeiten stellt einen Mietmangel dar, welcher zu einer Mietzinsherabsetzung um 18 % bzw. 10 % führt.
Sachverhalt
Im Jahr 2001 sind die Mieter in eine 5.5-Zimmerwohnung im 4. Stock einer Liegenschaft in Genf eingezogen. Von Oktober 2017 bis Juni 2020 wurde für Renovationsarbeiten ein Gerüst aufgestellt. Durch das Gerüst resultierten nachfolgende Beeinträchtigungen im Gebrauch der Mietsache:
- Blockierung der Fensterläden in geschlossener Position
- Balkonnutzung nicht mehr möglich
- Jalousien-Öffnung nicht mehr möglich
- Gefühl der Unsicherheit in der Mietwohnung aufgrund diverser auf dem Gerüst herumlaufenden Arbeiter:innen
- Tageweiser Nichtbetrieb des Aufzugs
- Einige Wasserausfälle
Prozess-History
- Erste Instanz
(Mietgericht Genf / Tribunal des baux et loyers Genève)- Auf Klage der Mieter reduzierte das Mietgericht des Kantons Genf mit Urteil vom 16.09.2021 den Mietzins wie folgt:
- um 10 % vom 31.10.2017 bis 30.11.2017
- um 18 % vom 01.12.2027 bis 31.05.2019 und erneut
- um 10 % vom 01.06.2019 bis 30.06.2020.
- Gegen dieses erstinstanzliche Urteil erhoben die Mieter Berufung mit dem Antrag, der Mietzins sei über die gesamte Zeitdauer der Renovationsarbeiten (01.10.2017 bis 30.06.2020) um 35 % zu reduzieren.
- Der Vermieter erhob Anschlussberufung mit dem Antrag, es sei überhaupt keine Mietzinsreduktion zu gewähren.
- Auf Klage der Mieter reduzierte das Mietgericht des Kantons Genf mit Urteil vom 16.09.2021 den Mietzins wie folgt:
- Zweite Instanz
(Kantonsgericht Genf / Cour de justice Genève – Chambre des baux et loyers)- Das Genfer Kantonsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil und hielt fest, dass die Vorinstanz die Quoten der gewährten Mietzinsreduktionen korrekt festgelegt habe.
- Das zweitinstanzliche Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
Erwägungen des Kantonsgerichts Genf / Cour de justice Genève – Chambre des baux et loyers
- Voraussetzungen für eine Mietzinsreduktion:
- Vorliegen eines Mangels der Mietsache
- Kenntnis des Mangels seitens Vermieterschaft
- ein Verschulden der Vermieterschaft an der Mangelhaftigkeit der Mietsache ist nicht notwendig
- Kenntnis der Vermieterschaft kann sowohl auf entsprechender Anzeige der Mieterschaft beruhen, als auch auf seiner eigenen Wahrnehmung oder jener einer Hilfsperson
- Mängelarten
- Leichter Mangel:
Der Mangel muss vom Mieter:in behoben werden. - Mittelschwerer Mangel:
Der Mangel vermindert den Gebrauchszweck der Mietsache, ohne ihn auszuschliessen oder erheblich zu beeinträchtigen. Der Gebrauch der Mietsache bleibt möglich und ist zumutbar. - Schwerer Mangel:
Der Mangel schliesst den vorausgesetzten Gebrauchszweck der Mietsache aus oder beeinträchtigt diesen erheblich. Ein Mangel liegt u.a. vor, wenn vitale Interessen wie bspw. die Gesundheit der Mieter:in dadurch gefährdet wird oder wenn wichtige Räume über einen längeren Zeitraum nicht genutzt werden können. Der Gebrauch der Mietsache ist unzumutbar.
- Leichter Mangel:
- Bemessung der Reduktion
- Die Mietzinsreduktion, die der Mieter nach Art. 259d OR verlangen kann, muss verhältnismässig zum Mietmangel sein.
- Zur Bemessung der Höhe der Mietzinsreduktion findet die relative Methode Anwendung. Die Herabsetzung wird demnach durch einen Vergleich des objektiven Wertes der mangelhaften Sache mit dem objektiven Wert der mängelfreien Sache bestimmt (vgl. BGE 130 III 504 E. 4.1).
- Erweist sich die Berechnung als schwierig (insb. wenn die Beeinträchtigungen von unterschiedlicher Intensität sind und über einen längeren Zeitraum andauern), ist eine Festsetzung der Mietzinsreduktion nach Billigkeit zulässig. Der Richter:in hat sich dann an die allgemeine Lebenserfahrung, den gesunden Menschenverstand und die Rechtsprechung zu halten. Hierbei spielen die Besonderheiten des Einzelfalls, wie bspw. der Verwendungszweck des Mietobjektes, eine wichtige Rolle (vgl. Urteile des BGer 4A_490/2010 vom 25.01.2011, E. 2.1 und 4C.219/2005 E. 2.4).
Entscheid des Kantonsgerichts Genf / Cour de justice Genève – Chambre des baux et loyers
- Prozessual
- Eintreten auf die Berufung der Mieter gegen das erstinstanzliche Urteil.
- Eintreten auf die Anschlussberufung des Vermieters gegen das erstinstanzliche Urteil.
- Materiell
- Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils zugunsten der Mieter.
- Feststellung der Kostenlosigkeit des mietgerichtlichen Verfahrens im Kanton Genf.
- Abweisung aller weiteren Anträge der Parteien.
- Quelle
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- Cour de justice du canton de Genève, Chambre des baux et loyers, du 29.08.2022, ACJC/1112/2022 (Originaltext Französisch)
Link zum Urteil des Kantonsgerichts Genf: ACJC/1112/2022 du 29.08.2022 sur JTBL/749/2021 ( OBL ) | justice.ge.ch
Anmerkung der Redaktion:
Fazit
- Gerüste im Zusammenhang mit Bauarbeiten und die damit einhergehenden Störungen in der Nutzung des Mietobjektes geben Mieter:innen Anspruch auf eine Mietzinsreduktion.
- Der Mieterschaft ist zu empfehlen, dem Vermieter die Beeinträchtigungen im Gebrauch der Mietsache zeitlich und sachlich konkret und umgehend zu schildern und deren Beseitigung bzw. eine Mietzinsreduktion zu verlangen. Dies ist auch deshalb von grosser Wichtigkeit, weil die Mängelrüge auf den Zeitpunkt zurückwirkt, wo der Vermieter Kenntnis vom Mangel hatte.
- Die zu gewährende Mietzinsreduktion kann über die gesamte Zeitdauer der Beeinträchtigung unterschiedlich hoch ausfallen.
- Die Bemessung der Mietzinsreduktion hat unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu erfolgen.
Anmerkung der Redaktion:
Kasuistik zu Mietzinsreduktionen im Zusammenhang mit Fassadenrenovationen
- ACJC/1350/2000: Mietzinsreduktion von 10 – 25%, wegen Fassadenrenovation, Dachbodenausbau, Austausch des Aufzugs etc.
- ACJC/220/2001; ACJC/1135/2001: Mietzinsreduktion von 15 %, wegen mehrmonatiger Fassadenrenovation mit Beeinträchtigung der Helligkeit und Privatsphäre in der Wohnung, Unbenutzbarkeit von Balkonen und Terrassen, Einsatz von Presslufthämmern und Hochdruckreinigern, Austausch der Fenster
- ACJC/972: Mietzinsreduktion von 10 %, wegen Fassadenrenovation, Einbau Aufzug, Ausbau Dachgeschoss (Lärm, Staub, Gerüste)
- ACJC/1198/2006: Mietzinsreduktion von 15 %, wegen umfassender Gebäuderenovation während 20 Monaten, unterschiedliches Ausmass der Beeinträchtigungen während der Bauarbeiten, weshalb bloss geringe Mietzinsreduktion, allerdings für die gesamte Dauer der Bauarbeiten
- ACJC/1350/2000: Mietzinsreduktion von 25 %, wegen Beeinträchtigungen mit unterschiedlicher Intensität durch einen Baustelle, mit Fassadensanierung, Austausch von Verglasungen und Storen (Aufstellen von Gerüsten, Ablaufrinnen, Müllschlucker etc.)
- SJ 1986, 195: Mietzinsreduktion von grundsätzlich 25 %, wegen Lärm und Staub der benachbarter Baustelle
- BGE 130 III 504; Übersetzung aus dem Französischen in Pra 94 (2005) Nr. 6: Mietzinsreduktion von 16 %, wegen Fehlfunktion der Klimaanlage
- mp 1996, 21: Mietzinsreduktion von 50 %, wegen schwerer Beeinträchtigung durch Bauarbeiten
- BGer, 24. 10. 2005, 4C.219/2005: Mietzinsreduktion von 60 %, dann 25 %, wegen massiven Erschütterungen, Lärm- und Schmutzimmissionen durch Abbruch und Neubau eines Gemeinschaftsgebäudes, Störung des Betriebes einer Stellenvermittlung
Weiterführende Informationen
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- LAWINFO
- LAWNEWS
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