Die auf Anfang 2022 eingeführte und bis Ende 2023 gültige Verordnungsregelung zur Bemessung des Invaliditätsgrades aufgrund der LSE-Tabellenlöhne ist laut Bundesgericht (BGer) teilweise bundesrechtswidrig:
- Die Korrekturmöglichkeiten des im konkreten Fall massgebenden LSE-Tabellenlohns,
- um damit der konkreten Situation der versicherten Person gerecht zu werden,
- sind als unzureichend zu beurteilen.
- um damit der konkreten Situation der versicherten Person gerecht zu werden,
- Sofern und soweit notwendig,
- ist deshalb ergänzend auf die bisherige Praxis des Bundesgerichts in diesem Bereich zurückzugreifen.
Urteil-Details
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt sprach einem Versicherten 2023 ab Juni 2022 eine Invalidenrente in der Höhe von 59 Prozent einer Vollrente zu. Auf den 1. Januar 2022 waren das revidierte Bundesgesetz und die revidierte Verordnung über die Invalidenversicherung (IVG, IVV) in Kraft getreten. Zur Bemessung des Invaliditätsgrades stellte das Gericht wie gesetzlich vorgesehen einen Einkommensvergleich an: Das Einkommen, das eine Person nach Eintritt der Invalidität durch eine ihr zumutbare Tätigkeit erzielen könnte (Invalideneinkommen) wird dabei dem Einkommen gegenübergestellt, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Invalideneinkommen). Das Invalideneinkommen des Versicherten legte das Gericht anhand der Tabellenlöhne der LSE (zweijährliche Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik) fest. Vom massgeblichen Tabellenlohn gewährte es aufgrund der konkreten Situation des Versicherten einen Abzug von 15 Prozent.
Gegen diesen Entscheid gelangte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ans Bundesgericht. Das BSV beantragte die Zusprechung einer Rente von nur 57 Prozent; es begründete dies damit, dass der per Anfang 2022 geänderte Artikel 26bis der bundesrätlichen IVV (die Bestimmung wurde per 1. Januar 2024 erneut angepasst) einen Korrekturabzug von maximal 10 Prozent vom LSE-Tabellenlohn erlaube (dies für den Fall, dass eine invalide Person nur noch 50 Prozent oder weniger arbeiten kann). Das Bundesgericht weist die Beschwerde des BSV ab. Es hat für Fälle vor der Revision des IVG und der IVV per 1. Januar 2022 eine Rechtsprechung zur Bestimmung des Invalideneinkommens anhand der LSE-Tabellenlöhne entwickelt (vgl. dazu u.a. Medienmitteilung vom 9. März 2022 zum Urteil 8C_256/2021). Um der besonderen Situation von invaliden Personen Rechnung zu tragen, waren bestimmte Korrekturen beim LSE-Tabellenlohn möglich. Vorgesehen war ein sogenannter leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn von maximal 25 %; eine weitere Korrektur war möglich, wenn die versicherte Person aus invaliditätsfremden Gründen bereits vor Eintritt der Invalidität unfreiwillig ein klar unterdurchschnittliches Einkommen bezog («Parallelisierung»). Mit Artikel 26bis IVV hat der Bundesrat die gemäss dieser Rechtsprechung möglichen Abzüge vom LSE-Tabellenlohn weitgehend ausgeschlossen. Aufgrund einer umfassenden Auslegung kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die auf diese Weise in der IVV geregelte und abschliessende Ordnung des Abzugs vom LSE-Tabellenlohn vor Bundesrecht nicht standhält. Insbesondere aus den Materialien zur Anpassung des IVG ergibt sich, dass diesbezüglich auf Verordnungsebene im Wesentlichen die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts übernommen werden und die Ermittlung des Invaliditätsgrades grundsätzlich unverändert bleiben sollte. Der Bundesrat als Verordnungsgeber hat indessen einen anderen Weg gewählt. Es besteht Grund zur Annahme, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Umsetzung des angepassten IVG in der IVV andere Erwartungen hegte und auch hegen durfte. Soweit aufgrund der Umstände des konkreten Falls ein Bedarf besteht, über die in der IVV geregelten Korrekturinstrumente hinaus Anpassungen am LSE-Tabellenlohn vorzunehmen, ist deshalb ergänzend auf die bisherigen Grundsätze der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zurückzugreifen. Der angefochtene Entscheid ist damit im Ergebnis nicht zu beanstanden.
BGer 8C_823/2023 vom 08.07.2024
Art. 26bis IVV 167 Bestimmung des Einkommens mit Invalidität
1 Erzielt die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität ein Erwerbseinkommen, so wird ihr dieses als Einkommen mit Invalidität (Art. 16 ATSG) angerechnet, sofern sie damit ihre verbliebene funktionelle Leistungsfähigkeit in Bezug auf eine ihr zumutbare Erwerbstätigkeit bestmöglich verwertet.
2 Liegt kein anrechenbares Erwerbseinkommen vor, so wird das Einkommen mit Invalidität nach statistischen Werten nach Artikel 25 Absatz 3 bestimmt. Bei versicherten Personen nach Artikel 26 Absatz 6 sind in Abweichung von Artikel 25 Absatz 3 geschlechtsunabhängige Werte zu verwenden.
3 Vom statistisch bestimmten Wert nach Absatz 2 werden 10 Prozent abgezogen. Kann die versicherte Person aufgrund ihrer Invalidität nur noch mit einer funktionellen Leistungsfähigkeit nach Artikel 49 Absatz 1bis von 50 Prozent oder weniger tätig sein, so werden 20 Prozent abgezogen. Weitere Abzüge sind nicht zulässig.168
167 Eingefügt durch Ziff. I des BRB vom 15. Jan. 1968 (AS 1968 43). Fassung gemäss Ziff. I der V vom 3. Nov. 2021, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 706).
168 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 18. Okt. 2023, in Kraft seit 1. Jan. 2024 (AS 2023 635). Siehe auch die UeB dieser Änd. am Schluss des Textes.
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam