Können sich Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge nicht über die Impfung der Kinder gegen Masern einigen, muss das Gericht oder die Kindesschutzbehörde im Interesse des Kindeswohls entscheiden. Der Entscheid sollte sich dabei an der Empfehlung des Bundesamtes für Gesundheit zur Durchführung der Masernimpfung orientieren. Vorbehalten bleiben allfällige Kontraindikationen für die Impfung bei den Kindern.
Sachverhalt
Im konkreten Fall üben die getrennt lebenden Eltern die gemeinsame Sorge über ihre drei minderjährigen Kinder aus. Sie sind sich nicht einig, ob die Kinder gegen Masern geimpft werden sollen. 2019 beantragte der Vater (im Rahmen eines Scheidungsverfahrens) beim zuständigen Scheidungsgericht, die Mutter zu verpflichten, die drei Kinder impfen zu lassen.
Prozess-History
- Der Antrag des Vater wurde vom Scheidungsgericht, d.h. erstinstanzlich, abgewiesen
- Die Abweisung des Antrags wurde vom Kantonsgericht Basel-Landschaft bestätigt
- Der Vater gelangte ans Bundesgericht.
Erwägungen des Bundesgerichts
Nach dem Willen des Gesetzgebers stehen Eltern bei gemeinsam ausgeübtem Sorgerecht in der Pflicht:
- Selbstregelung aller Kinderbelange
- Kein Elternteil hat Vorrang vor dem andern oder einen Stichentscheid
- Gültigkeit und Vorrang des Prinzips der Familien- und Elternautonomie in Bezug auf Kinderbelange vor staatlichen Interventionen.
Ein behördlicher Entscheid kommt so nur dann in Frage:
- Bei Meinungsverschiedenheit unter den Eltern, die zu einer Gefährdung des Kindeswohls im Sinne von ZGB 307 Abs. 1 führt
- Eine Gefährdung des Kindeswohls ist u.a. dann anzunehmen, wenn die ernstliche Möglichkeit einer körperlichen Beeinträchtigung des Kindes besteht
- Nicht erforderlich ist, dass sich die Gefahr bereits verwirklicht hat
- Der gesetzliche Kindesschutz ist eine präventive Massnahme.
Gemäss den Informationen der Fachbehörden (Bundesamt für Gesundheit BAG und Eidgenössische Kommission für Impffragen, Empfehlungen zur Prävention von Masern) haben Masern bei praktisch allen Erkrankten folgende Implikationen:
- eine ausgeprägte Schwächung des Immunsystems
- rund 10 Prozent der Fälle können zu verschiedenen, teils schweren Komplikationen führen.
Angesichts dieser Implikationen erträgt die Frage der Masernimpfung unter den Eltern keine Pattsituation:
- Können sich die Eltern über die Frage der Masernimpfung nicht einigen, haben deshalb im Rahmen einer Kindesschutzmassnahme zu entscheiden:
- Die Kindesschutzbehörde oder
- das Gericht.
Empfiehlt das BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde eine Masernimpfung, gilt folgendes:
- Grundsatz
- BAG-Empfehlung als „Richtschnur“ für den Impf-Entscheid
- Ausnahme
- Eine Abweichung von der BAG-Empfehlung ist nur im Falle allfälliger Kontraindikationen für die Masernimpfung bei den Kindern angezeigt.
Entscheid
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde des Vaters teilweise gut und wies die Sache zu neuem Entscheid ans Kantonsgericht Basel-Landschaft zurück, mit dem Auftrag allfällige Kontraindikationen bei den Kindern prüfen zu müssen.
Weitere Bedeutung des Bundesgerichtsurteils
- Kindesschutzbehörde kann nicht eine Masernimpfung anordnen, wenn die Eltern übereinstimmend erklären, ihr Kind nicht impfen zu wollen;
- Über einen Impfzwang entscheidet der Gesetzgeber.
Urteil des Bundesgerichts vom 16.06.2020 (5A_789/2019)
Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 15.07.2020, 12.02 Uhr
Weiterführende Informationen
Quelle
LawMedia Redaktionsteam