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Zivilprozessrecht

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ZPO-Revision: Begründung von Rechtsmittelurteilen nur noch auf Verlangen?

Datum:
21.01.2022
Rubrik:
Berichte
Rechtsgebiet:
Zivilprozessrecht
Stichworte:
Dispositiventscheide
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

„Dispositiventscheide“ soll Regelfall werden

Derzeit laufen die Bemühungen für eine parlamentarische Entscheidfindung zu folgenden Prozessordnungen:

  • BGG-Revision
      • (Revision des Bundesgerichtsgesetzes, SR 173.110)
  • ZPO-Revision
    • (Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung, SR 272)

Im Rahmen dieser Gesetzgebungsvorhaben ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel entstanden, nämlich die Urteilsbegründung – im Nachhinein – auf Verlangen, eine Bearbeitungsumkehr mit voraussichtlichen Folgen für die Rechtsprechungsqualität und für das Image der Jurisprudenz.

Dies rechtfertigt es, den geplanten Systemwechsel zu beleuchten und zu hinterfragen.

 

Aktuelles Recht

Allgemein

Gemäss geltender ZPO müssen Rechtsmittelinstanzen Berufungs- und Beschwerdeentscheide ausnahmslos mit schriftlicher Begründung eröffnen.

1.Instanz

In Zivilprozessen kann die erste Instanz ihren Entscheid ohne schriftliche Begründung eröffnen,

  • entweder in der HV durch Übergabe des Urteilsdispositivs an die Parteien mit kurz mündlicher Urteilsbegründung
  • oder durch Zustellung des Urteilsdispositivs an die Parteien (vgl. ZPO 239 Abs. 1).

Jede Partei kann von ihrem Recht Gebrauch machen, innert 10 Tagen die schriftliche Begründung zu verlangen (vgl. ZPO 239 Abs. 2, 1. Satz):

  • Das Nichtverlangen der Urteilsbegründung führt zum Verzicht auf die Anfechtung des Urteils mit Berufung oder Beschwerde (vgl. ZPO 239 Abs. 2, 2. Satz).

ZPO 239 Abs. 3 behält noch die Bestimmungen des BGG hinsichtlich der Eröffnung von ans Bundesgericht weiterziehbaren Entscheiden vor.

Rechtsmittelinstanz

Der Gesetzgeber hat die Begründungspflicht für Berufungs- und Beschwerdeentscheide bewusst anders geregelt:

  • Die Rechtsmittelinstanz hat nach ZPO 318 Abs. 2 und ZPO 327 Abs. 5 die Berufungs- und Beschwerdeentscheide mit einer schriftlichen Begründung zu eröffnen.

Diese Pflicht zur Eröffnung von Berufungs- und Beschwerdeentscheiden mit schriftlicher Begründung ist im Übrigen auch im Bundesgerichtsgesetz (BGG) festgeschrieben:

  • BGG 112 Abs. 2 sieht nur für „kantonales Recht“ Dispositiventscheide, nicht aber für die ZPO im Allgemeinen vor (siehe unten).

BGG-Revision

Das Parlament trat auf die BGG-Revisionsvorlage nicht ein. BGG 112 Abs. 2 gilt daher im bisherigen Wortlaut weiter (siehe oben).

ZPO-Revision

Das Vorhaben

Am 01.01.2011 trat die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) in Kraft. Damit wurde das bisher föderalistisch bzw. kantonal organisierte Zivilprozessrecht schweizweit vereinheitlicht.

Nach sieben Jahren der Praxisanwendung und Etablierung hat das Parlament mit der Motion 14.4008 den Bundesrat (BR) beauftragt,

  • zu prüfen
    • die Praxistauglichkeit der ZPO und
  • vorzulegen
    • eine entsprechende Gesetzesvorlage.

Auch parlamentarische Vorstösse verlangen erste Anpassungen der ZPO.

Die Motion 13.3931 verlangte im Anschluss an den Bericht des Bundesrates zum kollektiven Rechtsschutz von 2013 die

  • Ausarbeitung einer Vorlage
    • zum Ausbau der bestehenden Instrumente sowie
    • zur Schaffung neuer Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes zur gemeinsamen Geltendmachung von Streu- und Massenschäden.

Zum Ganzen und zur gesonderten Behandlung des kollektiven Rechtsschutzes vergleiche:

Erläuternder Bericht

Der BR hat erinnerlich am 02.03.2018 eine entsprechende Vernehmlassungsvorlage verabschiedet:

Dokumentation

Bundesrat / Vorschlag in Sachen Begründung

Der Bundesrat (BR) hat in der laufenden ZPO-Revision nun vorgeschlagen, dass Rechtsmittelinstanzen ihre Entscheide auch ohne schriftliche Begründung im Dispositiv eröffnen können, und zwar mit dem Recht der Parteien, eine nachträgliche Begründung verlangen zu dürfen.

Ständerat

Dem Ständerat (SR) ging der bundesrätliche Anpassungsvorschlag zu wenig weit:

  • Der SR will den Begründungsverzicht zur Regel machen.

Nationalrat

Der Nationalrat (NR) wird sich nun mit der ZPO-Revision befassen.

Es wird sich weisen, ob der NR die SR-Variante stützt, dem BR Recht gibt oder eine dritte Idee einbringt.

Gesetzgebungs-History zur Urteilsbegründung

Vorgeschichte

Die vom SR nun eingeführte Regel des unbegründet eröffneten Berufungs- und Beschwerdeentscheids hat eine längere Vorgeschichte:

  • Motion «Kein Begründungszwang vor zweitinstanzlichen Gerichten gegen den Parteiwillen» von Andrea Caroni vom 11.09.2013
    • Der BR beantragte detailliert begründet die Ablehnung der Motion (siehe nachfolgende Box)
    • Der NR folgte BR.
    • Der Motion war kein Erfolg beschieden.
  • BGG-Revision
    • Der BR plädierte vor zwei Jahren noch für die Beibehaltung der automatischen Urteilsbegründung kantonaler Rechtsmittelentscheide.
    • Nichteintreten des Parlaments (siehe oben).

Vernehmlassungs-Initiativen

Im Vernehmlassungsverfahren haben sich drei Teilnehmer dafür ausgesprochen, dass bei den kantonalen Rechtsmittelinstanzen ein Begründungsverzicht in den Berufungs- und Beschwerdeverfahren ermöglicht werden sollte:

  • Der Kanton St. Gallen;
  • die FDP,
    • in Erneuerung des Inhalts der Motion 13.3684 (siehe oben);
  • das Obergericht des Kantons Schaffhausen,
    • welches sich daran störte, dass jeder Entscheid zu begründen sei.

BR-Motive

Vor dem Hintergrund der oben wiedergegebenen History überrascht es etwas, dass der BR das Thema der Begründung von Berufungs- und Beschwerdeentscheiden in der laufenden ZPO-Revision wieder eingebracht hat.

Offenbar haben folgende Faktoren den BR zum Meinungsumschwung veranlasst:

  • Ein Bundesgerichtsentscheid,
    • nämlich:
      • BGE 142 III 695, Erw. 4.1. 3.2. + Erw. 4.1.6 f., wonach kantonale Rechtsmittelinstanzen ausnahmsweise ihre Entscheide eröffnen und später begründen dürften;
    • obwohl das BGer
      • das zweistufige Vorgehen der zweiten Instanz nur deshalb geschützt hat, weil die Begründungspflicht ausnahmslos gewahrt bleibe und dem Versand des Dispositivs zwingend ein schriftlich begründeter Entscheid nachzuliefern sei;
    • der vom BR falsch interpretiert worden zu sein scheint, weil das BGer einen Begründungsverzicht nicht erlaubt.
  • Die Praxisfeststellung
    • Vernehmlassungsergebnis zur ZPO-Revision,
      • wonach das Bedürfnis spürbar sei, die kantonalen Rechtsmittelinstanzen zu entlasten (siehe oben).

Dem BR geht es nun offenbar um folgendes:

  • Entlastung der kantonalen Rechtsmittelinstanzen
  • Reduktion der Kosten fürRechtssuchende und von

Gründe gegen ein Abrücken von der ursprünglichen Begründungspflicht

Es ist davon auszugehen, dass sich ein genereller, anfänglicher Begründungsverzicht negativ auf die Qualität der Berufungs- und Beschwerdeentscheide auswirken wird:

Begründung als Grundlage der Entscheidfindung

Folgendes ist für eine Beurteilung der Zweckmässigkeit einer Urteilsbegründung nach der Entscheidfindung relevant:

  • Begründungsarbeit beeinflusst die Entscheidfindung
    • Nur wer den Entscheid begründen muss, setzt sich zwangsläufig in aller Gründlichkeit mit Sachverhalt und Dossier auseinander.
    • Nur mit der Begründung erfolgt die mittelbare Kontrolle, ob die Überlegungen, die zum Entscheid geführt haben, wirklich tragend sind
  • Rechtsmittelprozesse als Aktenprozesse ohne Gerichtsverhandlung und Entscheidfindung im Zirkulationsverfahren
    • Rechtsmittelinstanzen entscheiden in der Regel als Kollegialgericht mit meistens Dreierbesetzung im (schriftlichem) Zirkulationsverfahren
      • Bei der schriftlichen Zirkulation mit Begründung sieht vielleicht der eine Richter, was dem anderen entgangen ist, ganz im Gegensatz zur (ggf. künftigen) nichtssagenden Zirkulation eines Urteilsdispositivs.
    • Gefahr einer bloss rudimentären Sachbefassung
      • Das geplante Urteilseröffnungssystem birgt die Gefahr in sich, dass allzu rasch – ohne tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Prozessstoff – das Dispositiv eröffnet und im Falle des Begründungsverlangens nachträglich festgestellt wird, dass die ursprüngliche Beurteilung der Sache nicht treffend ist.
    • Gefahr des Case-law-Denkens
      • Die bloss rudimentäre Sachbefassung dürfte dazu führen, dass über die heutigen Rechtsplattformen ein vermeintlich gleich- oder ähnlich gelagerter Rechtsmittelentscheid der Beurteilung zugrunde gelegt wird, obwohl eigentlich die Gesetzesanwendung in concreto zu einem anderem Ergebnis führen würde, was möglicherweise – wenn überhaupt – zu spät entdeckt wird, nämlich mit der Urteilsbegründung.
    • Gefährdung des Grundsatzes der Gerichtsöffentlichkeit
      • Unbegründete Urteile können bei den Parteien die Frage aufkommen lassen, ob sich wirklich jemand ernsthaft mit ihrer Prozesssache befasst hat, im Gegensatz zur Akzeptanz eines gleichzeitig begründeten und so eher nachvollziehbaren Rechtsmittelentscheids.
    • Ergänzende (Begründungs-)Informationen zur Vermeidung sich widersprechender Urteile
      • Zur Vermeidung widersprüchlicher Urteile ist es trotz Beschränkung der Rechtskraft auf das Urteilsdispositiv manchmal unumgänglich, die Urteilsbegründung heranzuziehen.
    • Gefahr der geringeren Akzeptanz unbegründeter Urteilsdispositive
      • In einem Verfahren, in welchem sich der Rechtsmittelkläger gegen einen aus seiner Sicht erstinstanzlichen Fehlentscheid wehrt, begründet die blosse Zustellung des Urteilsdispositivs keinen vertrauensbegründenden Akt der Gerichte und des Rechtsstaates.
    • Längere Verfahrensdauern
      • Erfahrungsgemäss ist die spätere Herstellung einer Urteilsbegründung zu einem vorgängig erfolgten Urteilsdispositiv aufwändiger und benötigt länger als eine Uno actu-Begründung, weshalb das geplante Konstrukt zu einer längeren, weder im Interesse der Parteien, noch der Gerichte liegenden Verfahrensdauer führen wird.
    • Keine nachträgliche Urteilsänderung

Fraglicher Profit für das Kosten- / Nutzenverhältnis

Der Nutzen einer Urteilseröffnung mit nachträglicher Begründung muss leider in Frage gestellt werden, aus folgenden Gründen:

  • Längere Produktionsdauer
    • Es dauert länger, den Entscheid zuerst im Dispositiv zu eröffnen und später erst zu begründen, anstelle einer sofortigen Ausfertigung des vollständigen Entscheids.
  • Generiert der absolute Begründungsverzicht weniger Aufwand als der absolute Begründungszwang?
    • Grundsatzfrage
      • Es ist fraglich, ob ein regelmässiger Begründungsverzichteffektiv weniger Aufwand generiert als ein absoluter Begründungszwang.
    • Einfache, offensichtliche Fälle
      • Hier lässt sich die unbegründete Urteilsausfertigung und die nachträgliche Begründung auf Verlangen rechtfertigen.
    • Anspruchsvollere und komplexe Fälle
      • Entweder entwirft die Rechtsmittelinstanz ein begründetes Urteil und stellt nur das Dispositiv zu, ist aber mit der Begründung bereits zustellbereit,
      • oder der Spruchkörper führt eine mündliche Urteilsberatung – anstelle eines Zirkulationsbeschlusses des begründeten Entscheids – durch.
    • Prognose
      • Je nach Fall und Vorgehen des Spruchkörpers wird das geplante Vorgehen im Vergleich zur aktuellen Gerichtspraxis einen erheblichen Mehraufwand bedeuten.
    • Zweimal- statt Einmalbefassung
      • Bei aktuellem Recht
        • Im Falle des absoluten Begründungszwangs hat sich die kantonale Rechtsmittelinstanz nur einmal mit der Sache zu befassen.
      • Anders im Falle der Urteilseröffnung ohne Begründung:
        • Das Gericht muss sich zu einem späteren Zeitpunkt ein zweites Mal mit dem Fall befassen und in den Prozessstoff eindenken, v.a. dann, wenn die Urteilsbegründung nachverlangt wird.
      • Aufwandersparnis?
        • Es ist schwer abzuschätzen, wieviel Arbeitsaufwand sich insgesamt vermeiden lässt, hängt dies doch massgeblich von der Quote der nachverlangten Begründungen ab.
      • Mindereinnahmen
        • Möglicherweise spart die kantonale Rechtsmittelinstanz Zeit und Arbeit, nämlich dann, wenn der Entscheid nur im Dispositiv und nicht vollständig mit Begründung ausfertigt werden muss.
        • Vice versa nimmt die Rechtsmittelinstanz weniger Gerichtsgebühren für Redaktion und Versand eines Urteilsdispositivs ein, da diese tiefer sind als für einen begründeten Entscheid und dies, obwohl bei sorgfältiger Arbeit trotzdessen der ganze Prozessstoff aufgearbeitet werden muss.

Fazit

Der vom SR motivierte generelle Begründungsverzicht für Rechtsmittelinstanzen ist, wie aufgezeigt, problematisch.

Alles spricht für eine Beibehaltung der Begründungspflicht von Berufungs- und Beschwerdeinstanzen gemäss aktueller ZPO.

Die kantonalen Rechtsmittelinstanzen sollten, wenn überhaupt, nur ausnahmsweise auf eine Urteilsbegründung verzichten dürfen.

Der Gesetzgeber laboriert wieder am Justizzugang herum und gefährdet damit die Glaubwürdigkeit von Staat und Justiz.

Es ist kein Grund, die ZPO zur Urteilseröffnung anzupassen, nur weil sie nun seit 10 Jahren in Kraft ist.

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

 

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