LAWNEWS

Strafprozessrecht / Strafrecht

QR Code

Inhaftierung: Ansetzung der Hauptverhandlung innert 6 Monaten

Datum:
30.03.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Strafprozess / Strafverfahren
Stichworte:
Beschuldigter, Hauptverhandlung, Inhaftierung, Strafverteidiger
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

BV 29; EMRK 5; StPO 5 Abs. 2

Die Hauptverhandlung (HV) ist bei einem inhaftierten Beschuldigten binnen 6 Monaten anzusetzen, sofern es sich nicht um einen besonders komplexen Fall handelt. Bei einer wesentlich grösseren Verzögerung hat eine Haftentlassung zu erfolgen. 

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft führte ein Strafverfahren gegen Beschwerdeführer A. wegen

  • des Verdachts der mehrfachen Vergewaltigung,
  • der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind und
  • der mehrfachen Pornographie.

A.wurde am 22.06.2020 festgenommen und befand sich seither in Untersuchungshaft bzw. Sicherheitshaft.

Am 11.06.2021 erhob die Staatsanwaltschaft gegen ihn Anklage beim Bezirksgericht Winterthur.

In einem ersten Urteil betreffend Haftentlassung bejahte das Bundesgericht (BGer)

  • den dringenden Tatverdacht und
  • die Kollusionsgefahr.

Die Frage, ob zusätzlich Fluchtgefahr bestehe, liess das BGer offen.

Zur gerügten Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen hielt das BGer  fest, dass eine solche zu bejahen wäre, falls das Bezirksgericht Winterthur die Hauptverhandlung erst im nächsten Jahr durchführen würde (im Zeitpunkt der Beurteilung durch das BGer stand dies noch nicht fest).

Nachdem die Hauptverhandlung für den Monat Mai 2022 vorgesehen worden war, ersuchte A. am 22.10.2021 erneut um Haftentlassung, Das BG Winterthur wies das Haftentlassungsgesuch ab.

Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte dessen Entscheid mit der Begründung,

  • im Zusammenhang mit dem Tatvorwurf seien noch Verfahren gegen sechs weitere Personen in Gang, die koordiniert werden müssten;
  • nach Eingang der Anklageschrift seien zusätzliche personelle Ressourcen beantragt worden.

Erwägungen

Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist (BV 29 Abs. 1).

Haftsachen müssen gestützt auf BV 31 Abs. 3 und 4 BV, EMRK 5 Abs. 3 und 4 und StPO 5 Abs. 2 mit besonderer Beschleunigung behandelt werden:

  • Bei der Beurteilung, ob das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt wurde, sind die konkreten Umstände des Einzelfalles entscheidend.

Zu berücksichtigen sind:

  • die Komplexität des Falles und
  • das Verhalten des Betroffenen bzw. seines Anwalts (Strafverteidiger).

Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt, wenn

  • in einem weder besonders schwierigen noch komplexen Fall
  • zwischen der Anklageerhebung und der angesetzten erstinstanzlichen Hauptverhandlung
  • mehr als 6 Monate liegen.

Weiter erwog und stellte das BGer fest:

  • Das Obergericht hat das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt.
  • Die Verletzung des Beschleunigungsgebot ist im Dispositiv festzuhalten und bei den Kosten- und Entschädigungsfolgen zu berücksichtigen.
  • Weitere Verfahrensverzögerungen seien zu vermeiden,
    • weshalb das Bezirksgericht Winterthur anzuhalten sei,
      • die Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer vor Ende Februar 2022 durchzuführen;
    • weshalb ein Zuwarten bis in die zweite Hälfte des Monats Mai 2022 bedeuten würde,
      • dass die Hauptverhandlung fast ein ganzes Jahr nach der Anklageerhebung erfolgen würde;
    • weshalb im konkreten Fall eine besonders schwerwiegende Verfahrensverzögerung darstellen würde,
      • welche die Haftentlassung zur Folge haben müsste.
  • Dagegen ist ein Haftentlassungsanspruch derzeit noch zu verneinen, weshalb der Antrag auf sofortige Haftentlassung abzuweisen sei.
  • Vorbehalten bleibe die Berücksichtigung der Verletzung des Beschleunigungsgebots durch den Sachrichter.

Ausgangsgemäss ist

  • die Beschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gutzuheissen;
  • der angefochtene Entscheid insoweit abzuändern, als eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen festgestellt wird;
  • der Kosten- und Entschädigungspunkt des vorinstanzlichen Verfahrens aufzuheben und dem Rechtsanwalt Ninos Jakob eine Entschädigung zuzusprechen;
  • die Beschwerde im Übrigen abzuweisen.

Bei diesem Verfahrensausgang

  • sind keine Kosten zu erheben (BGG 66 Abs. 1 und 4);
  • hat der Kanton Zürich dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (BGG 68 Abs. 2);
  • wird das Gesuch des Beschwerde führenden Rechtsvertreters um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Entscheid

  1. Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird insoweit abgeändert, als eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen festgestellt wird. In Bezug auf die Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens wird der angefochtene Entscheid aufgehoben, und Rechtsanwalt Ninos Jakob wird eine Entschädigung von Fr. 1’500.– zugesprochen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
  2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
  3. Der Kanton Zürich hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Ninos Jakob, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2’000.– auszurichten.
  4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

BGer 1B_672/2021 vom 30.12.2021

Anmerkung der Redaktion

Das Urteil ist für Strafverteidiger eine Hilfe, unter Anrufung des höchstrichterlich verdeutlichten Beschleunigungsgebotes kürzere Verfahrensdauern erwirken zu können.

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

Vorbehalt / Disclaimer

Diese allgemeine Information erfolgt ohne jede Gewähr und ersetzt eine Individualberatung im konkreten Einzelfall nicht. Jede Handlung, die der Leser bzw. Nutzer aufgrund der vorstehenden allgemeinen Information vornimmt, geschieht von ihm ausschliesslich in eigenem Namen, auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko.

Urheber- und Verlagsrechte

Alle in dieser Web-Information veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Das gilt auch für die veröffentlichten Gerichtsentscheide und Leitsätze, soweit sie von den Autoren oder den Redaktoren erarbeitet oder redigiert worden sind. Der Rechtschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Kein Teil dieser Web-Information darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – sämtliche technische und digitale Verfahren – reproduziert werden.