Gerichtspraxis wird Antworten finden müssen
Das revidierte Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist am 01.01.2022 in Kraft getreten.
Das neue Recht ist für alle Versicherungsverträge anwendbar, welche nach diesem Datum geschlossen wurden.
Einzig die Formvorschriften und das Kündigungsrecht gelten für Versicherungsverträge, welche zuvor verabredet wurden.
Die VVG-Revision hatte zum Ziel, die «nicht professionellen Versicherungsnehmer» besser zu schützen (B2C).
Aus der Versicherungsbranche sind erste Unklarheiten zu vernehmen:
- Wer ist ein professioneller Versicherungsnehmer?
- Ob ein Versicherungsnehmer als «professionell» gilt, ist fallweise zu prüfen:
- Vgl. VVG 98a Abs. 2 (siehe Box unten)
- Die zwingenden sowie teilzwingenden Bestimmungen des VVG können für die professionellen Versicherungsnehmer geändert werden.
- Vgl. VVG 98a Abs. 1 lit. b (siehe Box unten)
- Dabei stellt sich die Frage, ob die Inhalte bzw. Vorgaben aller Artikel des revidierten VVG gegenüber professionellen Versicherungsnehmern vertraglich angepasst werden dürfen.
- Ob ein Versicherungsnehmer als «professionell» gilt, ist fallweise zu prüfen:
- Ausschluss des «direkten Forderungsrechts» zulässig?
- Mit der Revision des VVG wurde das sog. «direkte Forderungsrecht», bisher bekannt aus dem Direktklagerecht gegenüber Motorfahrzeughaftpflichtversicherern, für alle (Haftpflicht-)Versicherungsfälle eingeführt:
Art. 60 VVG
1 An dem Ersatzanspruche, der dem Versicherungsnehmer aus der Versicherung gegen die Folgen gesetzlicher Haftpflicht zusteht, besitzt der geschädigte Dritte im Umfange seiner Schadenersatzforderung Pfandrecht. Der Versicherer ist berechtigt, die Ersatzleistung direkt an den geschädigten Dritten auszurichten.
1bis Dem geschädigten Dritten oder dessen Rechtsnachfolger steht im Rahmen einer allfällig bestehenden Versicherungsdeckung und unter Vorbehalt der Einwendungen und Einreden, die ihm das Versicherungsunternehmen aufgrund des Gesetzes oder des Vertrags entgegenhalten kann, ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Versicherungsunternehmen zu.
2 Das Versicherungsunternehmen ist für jede Handlung, durch die es den Dritten in seinem Rechte verkürzt, verantwortlich.
3 Der geschädigte Dritte kann in Fällen, in denen eine obligatorische Haftpflichtversicherung besteht, vom haftpflichtigen Versicherten oder von der zuständigen Aufsichtsbehörde die Nennung des Versicherungsunternehmens verlangen. Dieses hat Auskunft zu geben über Art und Umfang des Versicherungsschutzes.
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- Dürfen professionelle Versicherungsnehmer auf das «direkte Forderungsrecht» mittels Allgemeiner Versicherungsbedingungen (AVB) verzichten?
Die Bestimmungen des revidierten VVG werfen für die Anbieter wie die Versicherungsnehmer viele Fragen auf.
Erst die Branchenpraxis und die Rechtsprechung der Gerichte wird das Weitere weisen.
Weiterführende Informationen
3. Kapitel: Zwingende Bestimmungen
Vorschriften, die nicht abgeändert werden dürfen
Art. 97 VVG
Folgende Vorschriften dieses Gesetzes dürfen durch Vertragsabrede nicht geändert werden: die Artikel 10 Absatz 2, 13, 24, 35b, 35c, 41 Absatz 2, 46a, 46b Absätze 1 und 2, 46c Absatz 1, 47, 51, 58 Absatz 4, 60, 73, 74 Absatz 1 sowie 95c Absätze 1 und 2.
Vorschriften, die nicht zuungunsten des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten abgeändert werden dürfen
Art. 98 VVG
Die folgenden Vorschriften dieses Gesetzes dürfen durch Vertragsabrede nicht zuungunsten des Versicherungsnehmers oder des Anspruchsberechtigten geändert werden: die Artikel 1−3a, 6, 9, 11, 14 Absatz 4, 15, 20, 21, 28, 28a, 29 Absatz 2, 30, 32, 34, 35a, 38c Absatz 2, 39 Absatz 2 Ziffer 2 zweiter Satz, 41a, 42 Absätze 1−3, 44−46, 54, 56, 57, 59, 76 Absatz 1, 77 Absatz 1, 89, 90−95a, 95b Absatz 1, 95c Absatz 3 und 96.
Ausnahmen
Art. 98a VVG
1 Die Artikel 97 und 98 gelten nicht bei:
- Kredit- oder Kautionsversicherungen, soweit es sich um Versicherungen von beruflichen oder gewerblichen Risiken handelt, und bei Transportversicherungen;
- Versicherungen mit professionellen Versicherungsnehmern.
2 Als professionelle Versicherungsnehmer gelten:
- Vorsorgeeinrichtungen und Einrichtungen, die der beruflichen Vorsorge dienen;
- Finanzintermediäre nach dem Bankengesetz vom 8. November 1934144 und dem Kollektivanlagengesetz vom 23. Juni 2006;
- Versicherungsunternehmen nach dem VAG;
- ausländische Versicherungsnehmer, die einer gleichwertigen prudenziellen Aufsicht unterstehen wie die Personen nach den Buchstaben a–c;
- öffentlich-rechtliche Körperschaften, öffentlich-rechtliche Anstalten und öffentlich-rechtliche Stiftungen mit professionellem Risikomanagement;
- Unternehmen mit professionellem Risikomanagement;
- Unternehmen, die zwei der drei folgenden Grössen überschreiten:
- Bilanzsumme: 20 Millionen Franken,
- Nettoumsatz: 40 Millionen Franken,
- Eigenkapital: 2 Millionen Franken.
3 Gehört der Versicherungsnehmer zu einer Unternehmensgruppe, für die eine konsolidierte Jahresrechnung (Konzernrechnung) erstellt wird, so werden die Grössen nach Absatz 2 Buchstabe g auf die Konzernrechnung angewandt.
4 Die Reiseversicherung gilt nicht als Transportversicherung im Sinne von Absatz 1.
Quelle
LawMedia Redaktionsteam