«Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig» (StPO 10 Abs. 1):
- Anwendungsbereiche
- Die Unschuldsvermutung ist auch anzuwenden bei:
- Prozessvoraussetzungen
- Verfahrenshindernissen
- Die Unschuldsvermutung ist auch anzuwenden bei:
- Keine Geltung von dubio in reo bei Fragen zum Verfahren oder zur rechtlichen Würdigung
- Die Unschuldsvermutung gilt nicht bei:
- Verfahrensfragen
- Rechtlicher Würdigung
- Vgl. BGE 103 IV 129.
- Die Unschuldsvermutung gilt nicht bei:
- Ordnungsbussenverfahren im Strassenverkehr
- Anwendung auch auf Fahrzeughalter
- Gemäss OBG 6 mit Unschuldsvermutung vereinbar
- Keine Anwendung auf Unternehmen als Fahrzeughalter
- Mangels gesetzlicher Grundlage ist die Haltersanktion für Unternehmen unzulässig (vgl. BGer 6B_252/2017 vom 20.06.2018
- Anwendung auch auf Fahrzeughalter
- Kostenauferlegung bei Verfahrenseinstellung oder Freispruch
- Es ist unzulässig, in direkt über die Kosten die beschuldigte Person «schuldig zu sprechen».
- Tod des Angeklagten
- Keine nachträgliche Schuldfeststellung im strafrechtlichen Sinne.
-
- Vgl.
- EMGR-Entscheid i.S. Vulakh and Others vs. Russia vom 10.01.2012
- EMGR-Entscheid i.S. Largadère vs. France vom 12.04.2012.
- Vgl.
-
- Der Tod schliesst aber die zivilrechtliche Schadenersatzhaftung – ggf. auch für Rechtsnachfolger – nicht aus, wobei keine Feststellungen zur Schuld im strafrechtlichen Sinne zulässig sind.
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- Vgl.
- EMGR-Entscheid i.S. Diacenco vs. Romania vom 07.07.2012.
- Vgl.
-
- Keine nachträgliche Schuldfeststellung im strafrechtlichen Sinne.
Die Elemente der Unschuldsvermutung betreffen:
- Beweiswürdigungsregel
- «Das Gericht würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung» (StPO 10 Abs. 2).
- «Bestehen unüberwindliche Zweifel an der Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat, so geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus» (StPO 10 Abs. 3).
- Bestehen erhebliche und unüberwindbare Zweifel an der Schuld, hat ein Freispruch zu erfolgen (vgl. BGE 120 Ia 31).
- Beweislastregel
- Grundsatz
- Die Strafverfolgungsbehörde muss die Schuld des Anklagten beweisen (und nicht umgekehrt).
- Ausnahme
- «Bei Vermögenswerten einer Person, die sich an einer solchen Organisation beteiligt oder sie unterstützt hat (Art. 260ter), wird die Verfügungsmacht der Organisation bis zum Beweis des Gegenteils vermutet» (StGB 72 Satz 2).
- Grundsatz
Art. 10 StPO Unschuldsvermutung und Beweiswürdigung
1 Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
2 Das Gericht würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung.
3 Bestehen unüberwindliche Zweifel an der Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat, so geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus.
Art. 6 EMRK Recht auf ein faires Verfahren
(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
Literatur
- SCHNELL BEAT / STEFFEN SIMONE / BÄEHLER JUERG, Schweizerisches Strafprozessrecht in der Praxis – Theorie, Rechtsprechung und Musterdokumente, Bern 2024, S. 15 ff.
- TOPHINKE, BSK StPO, N 11 zu Art. 10 StPO
Judikatur
- Allgemeines
- BGE 120 Ia 31
- BGer 1P.109/2000
- BGE 103 IV 129
- Ordnungsbussen
- BGer 6B_252/2017 vom 20.06.2018
- Bei Tod des Angeschuldigten keine Feststellungen zur Schuld
- EMGR-Entscheid i.S. Diacenco vs. Romania vom 07.07.2012