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Anwälte / Auftragsrecht

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Anwaltshaftung für unterlassene Abklärungen?

Datum:
19.01.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Anwälte / Mediatoren
Stichworte:
Unsorgfalt des Anwalts
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

OR 398 i.V.m. OR 97

Sachverhalt

Ein Rechtsanwalt wurde 2003 von einer Frau mit der Wahrung ihrer Interessen im Ehescheidungsverfahren beauftragt.

Der angeblich mittellose Ehemann behauptete im Scheidungsverfahren, er besitze kein Pensionskassenguthaben.

Gerichtliche Nachforschungen ergaben, dass seine Pensionskasse 1995 zu seinen Gunsten eine Freizügigkeitsleistung von ca. CHF 476‘000.– per Check ausbezahlt hatte.

Im Juni 2004 liess der Anwalt dem Gericht die Erklärung der Ehefrau zukommen, mit welcher sie

  • ihren Scheidungswillen bekräftigte und
  • anerkannte, dass kein Freizügigkeitsguthaben vorhanden sei.

Im Juli 2004 wurde die Ehe geschieden.

Ein Strafverfahrens gegen den Ehemann ergab, dass er

  • im Gesuch auf Barauszahlung der Freizügigkeitsleistung die Unterschrift seiner damaligen Ehefrau gefälscht hatte und
  • das Guthaben auf das Konto seiner neuen Lebenspartnerin einbezahlt wurde.

Die Nachkommen der inzwischen verstorbenen Ehefrau erhoben als Rechtsnachfolger 2016 Klage gegen früheren Scheidungsanwalt.

Erwägungen

Sorgfaltsverletzung?

Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Scheidungsanwalts liegt vor:

  • Er versäumte es, bei seiner Klientin nachzufragen, ob sie dem Barbezug ehemals zugestimmt hatte.

Voraussetzung für eine Geltendmachung von Schadenersatz

  • Damit der Scheidungsanwalt aufgrund seiner Unterlassung schadenersatzpflichtig gemacht werden konnte, musste im Sinne der hypothetischen Kausalität mit überwiegender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass der Schaden bei Vornahme der unterlassenen Handlung nicht eingetreten wäre.

Ergebnis eines hypothetischer Vorprozesses vs. PK?

  • Die Klientin hätte den Prozess gegen die Pensionskasse (PK) wegen sorgfaltswidriger Auszahlung der Austrittsleistung bei pflichtgemässem Vorgehen des Anwalts mit überwiegender Wahrscheinlichkeit führen müssen.
  • Diese Frage hängt von den Erfolgschancen des sozialversicherungsrechtlichen Prozesses ab.
    • Da die Klientin den Wunsch nach einer schnellen Ehescheidung geäussert hatte, war davon auszugehen, dass sie eine Klage gegen die PK nur bei sehr guten Prozesschancen geführt hätte.

Damaliger Rechtsstand

  • Für die hypothetische Beurteilung des Verfahrensausgangs gegen die PK war die Rechtslage, wie sie damals objektiv richtig zu betrachten war, massgebend (vgl. hiezu auch BGE 130 V 103):
    • Frage, ob der PK eine Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht vorgeworfen werden konnte, weil sie die Herkunft der Unterschriften auf dem Auszahlungsformular nicht überprüfte und, ob die Barauszahlung vor oder nach der Mitteilung des Bundesamts für Sozialversicherungen (BfS vom 22.06.2000 erfolgte.
    • Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls:
      • Auszahlung vor der BfS-Mitteilung
        • Prüfung, ob die PK angesichts besonderer Umstände hätte misstrauisch sein müssen.
        • Auszahlungsbegehren des Ehemanns per Check.
          • Keine Annahme der Ehegatten-Prellung, sondern Geheimhaltungsabsicht gegenüber den Steuerbehörden.
        • Kurzer Verbleib bei der PK von rund 2 Monaten konnte Annahme rechtfertigen, dass dem Ehemann als Arbeitnehmer die Arbeit nicht gefiel und er sich selbstständig machen wolle.
      • Verdachtsmomente sprechen weder einzeln noch gesamthaft für gute Prozesschancen.
    • Mithin kann nicht gesagt werden, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Prozess gegen die PK gewonnen worden wäre und sich die Ehefrau für diesen Weg entschieden hätte.
  • BGer hat sich – wie üblich in solchen Fällen – bei der Beurteilung der Hypothese zum mutmasslichen Prozessausgang des Erstprozesses hinsichtlich der Würdigung durch die Vorinstanz Zurückhaltung auferlegt.

Ergebnis

Die Schadenersatzklage gegen den Scheidungsanwalt wurde von der Vorinstanz zu Recht abgewiesen.

Entscheid

  1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
  2. Die Gerichtskosten von Fr. 6’000.– werden den Beschwerdeführern unter solidarischer Haftbarkeit auferlegt.
  3. Die Beschwerdeführer haben unter solidarischer Haftbarkeit den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 7’000.– zu entschädigen.
  4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

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