Gemäss StPO 127 Abs. 3 kann ein Rechtsbeistand – im Rahmen von Gesetz und Standesregeln – im Verfahren die Interessen mehrerer Verfahrensbeteiligter vertreten:
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Anwaltliche Standesregeln
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- Anwälte sind verpflichtet, jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und Personen zu vermeiden, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen (vgl. BGFA 12 lit. c)
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Vermeidung von Interessenkonflikten
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- Zur Vermeidung von Interessenkonflikten sollte der Anwalt vor Mandatsannahme abklären, ob eine Mandatsannahme zu einer Interessenkollision führen könnte
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Unzulässiger Interessenkonflikt
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- Ein unzulässiger Interessenkonflikt ist dann gegeben, wenn der Rechtsanwalt die Interessenwahrung des einen Klienten übernommen hat und dabei Entscheidungen zu treffen hat, mit denen er sich in den Widerspruch zu eigenen oder zu anderen ihm zur Wahrung übertragenen Interessen begibt bzw. begeben muss
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Mögliche potenzielle Interessenkonflikte
- Anwalt war als Verteidiger eines Mitbeschuldigten tätig und Vorhandensein eines engen Sachzusammenhangs zwischen den Verfahren (vgl. BGer 1B_263/2016, Erw. 2.2)
- Strafverteidiger vertritt zwei Personen, die sich gegenseitig strafbarer Handlungen bezichtigen, ungeachtet dessen, dass um zwei verschiedene Strafverfahren handelt und eines der Verfahren bereits abgeschlossen ist (vgl. BGer 1B_120/2018, Erw. 5)
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Interessenkonflikt
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- Die Vertretung mehrerer Mitbeschuldigter durch denselben Rechtsanwalt begründet grundsätzlich einen Interessenkonflikt
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Mehrfachverteidigung
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Grundsätze
- Die gleichzeitige Vertretung mehrerer Mitbeschuldigter ist – von besonderen Ausnahmen abgesehen – nicht zulässig
- Eine Doppelvertretung ist auch in folgenden Fällen unzulässig:
- Zustimmung der Mandanten
- Absicht für alle beschuldigten Mandanten einen Freispruch zu beantragen
- etc.
- Vgl. BGer 1B_611/2012, Erw. 2.2
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Ausnahmen
- Die Mitbeschuldigten haben
- identische und widerspruchsfreie Sachverhaltsdarstellungen
- keine divergierenden Prozessinteressen, auch nach den konkreten Umständen
- vgl. BGer 6B_1073/2010, Erw. 1.2.2
- Voraussetzungen für eine solche Mandatsübernahme
- RA muss die Interessenlage seiner Mandanten vorweg umfassend prüfen
- Jegliche Interessenkollision sollte ausgeschlossen sein
- Verhalten bei späterem Auftreten eines noch so geringen Interessenkonflikts
- Sofortige Mandatsniederlegung
- Die Mitbeschuldigten haben
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Zeitlich nacheinander erfolgende Mehrfachverteidigung
- Auch zeitlich nacheinander folgende Mandatierungen in derselben Sache können problematisch sein, d.h. wenn der ehemalige Verteidiger in einem späteren Verfahrensstadium einen anderen Mitbeschuldigten vertritt:
- Gefahr der Verwendung von unter dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses anvertrauten vertraulichen Informationen des früheren Mandanten
- später zum Nachteil des mitangeklagten früheren Mandanten
- zur Interessewahrung seines neuen Klienten
- vgl. BGE 135 I 261, Erw. 5.9
- Gefahr der Verwendung von unter dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses anvertrauten vertraulichen Informationen des früheren Mandanten
- Auch zeitlich nacheinander folgende Mandatierungen in derselben Sache können problematisch sein, d.h. wenn der ehemalige Verteidiger in einem späteren Verfahrensstadium einen anderen Mitbeschuldigten vertritt:
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Interessenkonflikte in Bürogemeinschaften
- Auch in Kanzleigemeinschaften jeder Art können Interessenkonflikte entstehen, wenn gegensätzliche Interessen vertreten werden (vgl. BGer 1B_259/2016, Erw. 2.5)
- Ein Mandatsannahmehindernis erstreckt sich auf alle Rechtsanwälte, die im Zeitpunkt der Mandatsannahme in der gleichen Kanzlei tätig sind
- zB Mandatsannahmehindernis, weil bereits ein anderer Anwalt der Kanzleigemeinschaft einen Mitangeschuldigten oder Privatkläger vertritt
- zB Anwalt wechselt die Kanzlei und bringt aus seinem früheren Arbeitsverhältnisse Vorkenntnisse aus einem Mandat oder in einem Sachzusammenhang mit, der beim neuen Arbeitgeber betreut wird (vgl. BGE 145 IV 318, Erw. 2)
- zB Fusion von Anwaltskanzleien
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Schutz des Vertrauensverhältnisses c. ungestörte Wahrheitsfindung
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Pflicht zum Einschreiten der Strafuntersuchungsbehörden
- Ausgangslage
- Die Regeln des Anwaltsrechts dienen nur dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Angeklagten und Anwalt, nicht aber den Interessen der ungestörten Wahrheitsfindung im Strafverfahren
- Grundsatz
- Die Strafuntersuchungsbehörden sind bei Interessenkonflikten aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Einschreiten verpflichtet, auch wenn die Mandanten der Doppelvertretung zustimmten
- Ausnahme
- Die Strafuntersuchungsbehördenkönnen sich nicht StPO 127 Abs. 3 berufen, wenn eine gehörige Aufklärung mögliche Interessenkollisionen des Anwalts vorliegt und die Doppelvertretung durch die Mandanten explizit akzeptiert wird
- Ausgangslage
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Möglichkeiten der Strafuntersuchungsbehörden
- Die Verfahrensleitung kann
- zur Vermeidung bzw. Behebung einer allfälligen Kollusionsgefahr eventuell StPO 108 anwenden, d.h. das rechtliche Gehör einschränken (siehe Box unten)
- jederzeit über die Vertretungsbefugnis des Rechtsbeistands entscheiden (vgl. BGE 141 IV 257, Erw. 2.2)
- Das einem Rechtsanwalt auferlegte Vertretungsverbot betrifft den Mandanten in seinem Recht auf freie Anwaltswahl, weshalb dieser befugt ist, dagegen das Rechtsmittel zu ergreifen (vgl. BGE 138 II 162, Erw. 2)
- Die Verfahrensleitung kann
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Literatur
- OBERHOLZER NIKLAUS, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Auflage, Bern 2020, S. 135 f., Rz 407 ff.
Judikatur
- Doppelvertretung
- BGer 1B_120/2018, Erw. 5
- BGer 1B_611/2012 vom 29.01.2013
- Mehrfachverteidigung
- BGer 6B_1073/2010, Erw. 1.2.2
- BGer 1B_510/2018 vom 14.03.2019 = BGE 145 IV 218
- BGer 1B_7/2009 vom 16.03.2000
- Zeitlich nacheinander folgende Vertretung
- BGer 1B_263/2016 vom 04.10.2016
- BGE 135 I 261, Erw. 5.9
- Bürogemeinschaften
- BGer 1B_259/2016, Erw. 2.5
- Kanzleiwechsel eines Anwalts
- BGer 1B_510/2018 vom 14.03.2019 = BGE 145 IV 218, Erw. 2
- Vertretungsbefugnis durch professionellen Rechtsbeistand / Verfahrensleitung
- BGE 141 IV 257, Erw. 2.2
- BGE 138 II 162, Erw. 2
Links
Art. 108 StPO Einschränkungen des rechtlichen Gehörs
1 Die Strafbehörden können das rechtliche Gehör einschränken, wenn:
- der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht;
- dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist.
2 Einschränkungen gegenüber Rechtsbeiständen sind nur zulässig, wenn der Rechtsbeistand selbst Anlass für die Beschränkung gibt.
3 Die Einschränkungen sind zu befristen oder auf einzelne Verfahrenshandlungen zu begrenzen.
4 Besteht der Grund für die Einschränkung fort, so dürfen die Strafbehörden Entscheide nur so weit auf Akten, die einer Partei nicht eröffnet worden sind, stützen, als ihr von deren wesentlichem Inhalt Kenntnis gegeben wurde.
5 Ist der Grund für die Einschränkung weggefallen, so ist das rechtliche Gehör in geeigneter Form nachträglich zu gewähren.