Eine amtliche Verteidigung wird auch angeordnet, wenn der Beschuldigte nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt und eine Verteidigung zur Interessenwahrung des Beschuldigten geboten ist (vgl. StPO 132 Abs. 1 lit. b):
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Gebotene Verteidigung zur Wahrung der Beschuldigten-Interessen
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Voraussetzungen
- Gemäss StPO 132 Abs. 2 ist die Verteidigung zur Interessenwahrung des Beschuldigten dann geboten,
- wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und
- wenn der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die Beschuldigte allein nicht gewachsen ist
- Gemäss StPO 132 Abs. 2 ist die Verteidigung zur Interessenwahrung des Beschuldigten dann geboten,
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Kein Bagatellfall
- Kein Bagatellfall liegt gemäss StPO 132 Abs. 3 vor, wenn zu rechnen ist mit einer:
- Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten
- Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen
- Kein Bagatellfall liegt gemäss StPO 132 Abs. 3 vor, wenn zu rechnen ist mit einer:
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Voraussetzungen für gebotenen Verteidigungsanspruch
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Differenzierung
- Unterscheidung in absolut und relativ schwere Eingriffe in die Position des Beschuldigten
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Gegebener absoluter Anspruch
- Ungeachtet der hievor erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles besteht für den Beschuldigten immer dann ein sog. absoluter Anspruch auf eine amtliche Verteidigung, wenn
- die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gegeben sind, d.h.
- zB eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder
- zB eine freiheitsentziehende Massnahme
- die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gegeben sind, d.h.
- Ungeachtet der hievor erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles besteht für den Beschuldigten immer dann ein sog. absoluter Anspruch auf eine amtliche Verteidigung, wenn
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Erfordernis der relativen Schwere des Falles
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Voraussetzungen für eine relative Schwere (vgl. StPO 132 Abs. 2)
- Eine erhebliche, nicht aber eine besonders schwere Freiheitsbeschränkung
- Kein Bagatellfall
- Tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, bei denen der Beschuldigte auf sich allein gestellt nicht gewachsen wäre
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Grad der Schwierigkeit
- Der Schwierigkeitsgrad lässt sich meistens nicht abschliessend bestimmen
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Kriterium
- Je schwerer der Eingriff in die Betroffenen-Interessen wiegt, desto geringer sind die vom Gesetz geforderten tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten
- Vgl. auch BGer 1B_167/2016, Erw. 3.5
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Erfordernis einer wirksamen Verteidigung
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Gradmessung der Schwierigkeiten
- Die Beurteilung, ob der Beschuldigte der Situation gewachsen ist, orientiert sich an den
- Fähigkeiten des Beschuldigten
- Prozessualen Erfahrungen des Beschuldigten
- Persönliche Umstände des Beschuldigten, welche gesamthaft betrachtet für die Notwendigkeit einer amtlichen Verteidigung sprechen (vgl. auch BGE 138 IV 35, Erw. 6.3 – 6.4)
- zB Sprachschwierigkeiten
- zB ungenügende Schuldbildung
- zB Familienstreit
- zB Konfrontation mit
- (anwaltlich vertretenem) Mitbeschuldigten
- (anwaltlich vertretener) Gegenpartei
- Die Beurteilung, ob der Beschuldigte der Situation gewachsen ist, orientiert sich an den
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Einwände gegen Anwaltsbeistand
- Keine tauglichen Einwände gegen die Gewährung der amtlichen Verteidigung bilden:
- Verweis auf den strafrechtlichen Grundsatz der Untersuchungsmaxime
- Verweis auf den Umstand, dass Beweiswürdigung und Rechtsanwendung von Amtes wegen erfolgen müssten (vgl. BGE 117 Ia 277, Erw. 5b)
- Keine tauglichen Einwände gegen die Gewährung der amtlichen Verteidigung bilden:
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Beachtung weiterer Umstände
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Fehlende Kenntnisse der Verhandlungssprache
- Kein Grund für eine amtliche Verteidigung, da ein Uebersetzer für die Uebersetzung der Verhandlungssprache in die Sprache des Beschuldigten beigezogen werden kann
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Weitere Umstände des konkreten Einzelfalls
- Treten weitere Umstände hinzu, kann auch in mittelschweren der Anspruch auf einen amtlichen Verteidiger gegeben sein
- Anwendungsfälle
- Fehlende Sprachkenntnisse und minimale Schuldbildung
- Vgl. BGer 1B_23/2016, Erw. 2; BGer 1B_263/2013, Erw. 4.5
- Fehlendes intellektuelles Verständnis und Komplexität der sich stellenden Rechtsfragen
- Vgl. BGer 1B_257/2013, Erw. 2.2
- Problematische Charaktereigenschaften und psychische Verfassung
- Vgl. BGer 1P.627/2002, Erw. 4.3
- Familiär negativ belastete Konstellationen
- Vgl. BGer 1B_170/2013, Erw. 4
- Erfordernis juristischer Kenntnisse
- Vgl. BGer 1B_448/2012, Erw. 2
- Fehlende Sprachkenntnisse und minimale Schuldbildung
- Vgl. auch StPO 130 lit. c (siehe Box unten)
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Herstellung einer Chancengleichheit
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Grundsatz
- Anspruch auf amtliche Verteidigung aus dem Grundsatz der Chancengleichheit (ungeachtet der Schwierigkeiten des Falles)
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Anwendungsvoraussetzung
- Relativ schwere Straffälle
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Anwendungsfälle
- zB Anklagevertretung vor Gericht (vgl. StPO 130 lit. d; siehe Box unten)
- zB eine von mehreren sich gegenseitig belastenden Beschuldigten ist anwaltlich vertreten (vgl. OBERHOLZER NIKLAUS, a.a.O., S. 150, Rz 459)
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Bagatellfälle
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Ausgangslage
- Bagatellfall
- Straftatbestand mit geringfügiger Strafandrohung
- Kein Bagatellfall
- Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten als Strafandrohung
- Geldstrafe von mehr al 120 Tagessätzen
- Vgl. auch StPO 132 Abs. 3; siehe Box unten)
- Bagatellfall
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Grundsatz
- Kein Anspruch auf amtliche Verteidigung in Bagatellfall
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Abgrenzung Bagatellfall von relativ schwerem Fall
- Miteinbezug der Widerrufsmöglichkeiten bezüglich Freiheitsstrafe und Geldstrafe
- Vgl. BGer 1B_344/2015, Erw. 2.2
- Miteinbezug der Widerrufsmöglichkeiten bezüglich Freiheitsstrafe und Geldstrafe
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Nicht erreichte Strafandrohungs-Schwellenwerte
- Keine automatische Annahme eines Bagatellfalls, sondern Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls
- Genereller Ausschluss der amtlichen Verteidigung
- Ein solcher darf nur bei offensichtlichen Bagatellkonflikten erfolgen
- zB zum vorneherein nur eine Busse zu erwarten
- zB zum vorneherein nur eine geringfügige Freiheitsstrafe zu erwarten
- Vgl. BGer 1B_263/2013, Erw. 4.3
- Ein solcher darf nur bei offensichtlichen Bagatellkonflikten erfolgen
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Kostenfrage
- In solchen Fällen stellt sich auch die Frage, wann der Beizug einer Wahlverteidigung angemessen ist und der Beschuldigte daher Anspruch auf Entschädigung der Kosten seines privaten Rechtsvertreters hat
- Vgl. OBERHOLZER NIKLAUS, a.a.O., S. 710 ff., Rz 2314 ff.)
- In solchen Fällen stellt sich auch die Frage, wann der Beizug einer Wahlverteidigung angemessen ist und der Beschuldigte daher Anspruch auf Entschädigung der Kosten seines privaten Rechtsvertreters hat
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Literatur
- OBERHOLZER NIKLAUS, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Auflage, Bern 2020, S. 148 ff., Rz 454 ff.; S. 710 ff., Rz 2314 ff.
Judikatur
- Voraussetzungen für gebotenen Verteidigungsanspruch
- BGE 139 IV 113, Erw. 4.3
- Erfordernis der relativen Schwere des Falles
- BGer 1B_167/2016, Erw. 3.5
- Erfordernis einer wirksamen Verteidigung
- BGE 128 I 225, Erw. 2.5.2
- BGE 138 IV 35, Erw. 6.3 – 6.4
- BGE 117 Ia 277, Erw. 5b
- Beachtung weiterer Umstände
- BGer 1B_23/2016, Erw. 2
- BGer 1B_263/2013, Erw. 4.5
- BGer 1B_257/2013, Erw. 2.2
- BGer 1P.627/2002, Erw. 4.3
- BGer 1B_170/2013, Erw. 4
- BGer 1B_448/2012, Erw. 2
- Bagatellfälle
- BGer 1B_344/2015, Erw. 2.2
- BGer 1B_263/2013, Erw. 4.3
Art. 132 StPO Amtliche Verteidigung
1 Die Verfahrensleitung ordnet eine amtliche Verteidigung an, wenn:
- bei notwendiger Verteidigung:
- die beschuldigte Person trotz Aufforderung der Verfahrensleitung keine Wahlverteidigung bestimmt,
- der Wahlverteidigung das Mandat entzogen wurde oder sie es niedergelegt hat und die beschuldigte Person nicht innert Frist eine neue Wahlverteidigung bestimmt;
- die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist.
2 Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre.
3 Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist.
Art. 130 StPO Notwendige Verteidigung
Die beschuldigte Person muss verteidigt werden, wenn:
- die Untersuchungshaft einschliesslich einer vorläufigen Festnahme mehr als 10 Tage gedauert hat;
- ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, eine freiheitsentziehende Massnahme oder eine Landesverweisung droht;
- sie wegen ihres körperlichen oder geistigen Zustandes oder aus anderen Gründen ihre Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann und die gesetzliche Vertretung dazu nicht in der Lage ist;
- die Staatsanwaltschaft vor dem erstinstanzlichen Gericht oder dem Berufungsgericht persönlich auftritt;
- ein abgekürztes Verfahren (Art. 358–362) durchgeführt wird.