Grundsatz: persönliche Teilnahme
Die Parteien müssen persönlich zur Schlichtungsverhandlung erscheinen (vgl. ZPO 204 Abs. 1).
Die Begleitung durch einen Rechtsbeistand oder eine Vertrauensperson ist zulässig (vgl. ZPO 204 Abs. 2).
Ausnahme: Vertretung
Nicht persönlich erscheinen muss und sich vertreten lassen kann, wer:
- ausserkantonalen oder ausländischen Wohnsitz hat;
- wegen Krankheit, Alter oder anderen wichtigen Gründen verhindert ist;
- in Streitigkeiten nach Artikel 243 als Arbeitgeber beziehungsweise als Versicherer eine angestellte Person oder als Vermieter die Liegenschaftsverwaltung delegiert, sofern diese zum Abschluss eines Vergleichs schriftlich ermächtigt sind.
Die Gegenpartei ist indessen über die Vertretung vorgängig zu informieren (vgl. ZPO 204 Abs. 4).
Hintergrund für die Spezialregel im Schlichtungsverfahren
Mit ZPO 204 wird von der allgemeinen Verfahrensregel abgewichen, wonach sich jede prozessfähige Partei im Prozess vertreten lassen kann (ZPO 68 Abs. 1; BGer 4C_1/2013 vom 25.06.2013 Erw. 4.3):
- Intentionen des Gesetzgebers
- Gesetzgeberidee
- Überlegung des Gesetzgebers, dass eine Schlichtungsverhandlung meist dann am aussichtsreichsten ist, wenn die Parteien persönlich erscheinen, da nur so eine wirkliche Aussprache stattfinden kann
- Äusserungsmöglichkeit für die Parteien selbst
- Auch im Begleitungsfalle können sich die Parteien an der Verhandlung doch primär selber äussern
- Gespräch vor Klageeinleitung
- Durch die Pflicht zum persönlichen Erscheinen soll ein persönliches Gespräch zwischen den Parteien vor der allfälligen Klageeinreichung ermöglicht werden
- Zwang zur gemeinsamen Aussprache durch die Entscheidungsträger
- ZPO 204 Abs. 1 zielt – wie das Schlichtungsverfahren überhaupt – darauf ab, diejenigen Personen zu einer Aussprache zusammenzubringen, die sich miteinander im Streit befinden und die über den Streitgegenstand selber verfügen können
- Abschliessend bestimmte Ausnahmen von der Teilnahmepflicht
- Dem Grundsatz der gemeinsamen Aussprache durch die Entscheidungsträger folgend, sieht ZPO 204 Abs. 3 lediglich in bestimmten, abschliessend geregelten Fällen eine Ausnahme von dieser Teilnahmepflicht vor
- Siehe oben „Ausnahme: Vertretung“
- Gesetzgeberidee
- Verfahrensleitung der Schlichtungsbehörde
- Kognitionspflicht der Schlichtungsbehörde
- Die Schlichtungsbehörde hat an der Schlichtungsverhandlung zu prüfen, ob die Voraussetzung des persönlichen Erscheinens nach ZPO 204 Abs. 1 erfüllt ist
- Von dieser Frage hängt das weitere Vorgehen ab:
- Erscheint eine Partei nicht persönlich, ohne dass ein Dispensationsgrund nach ZPO 204 Abs. 3 vorliegt, so ist sie säumig
- Allgemeines zur Säumnis
- Die Säumnisfolgen sind für Kläger und Beklagten in ZPO 206 unterschiedlich geregelt
- Säumnis des Klägers
- Ist der Kläger säumig, gilt das Schlichtungsgesuch als zurückgezogen
- Das Verfahren wird als gegenstandslos abgeschrieben (vgl. ZPO 206 Abs. 1)
- Säumnis des Beklagten
- Bei Säumnis des Beklagten verfährt die Schlichtungsbehörde gemäss ZPO 206 Abs. 2, wie wenn keine Einigung zu Stande gekommen wäre, d.h. nach den Artikeln ZPO 209 – ZPO 212
- Die Schlichtungsbehörde hat in der Regel die Klagebewilligung zu erteilen (vgl. ZPO 209)
- In gewissen Fällen kann sie stattdessen den Parteien
- einen Urteilsvorschlag unterbreiten (vgl. ZPO 210) oder
- auf Antrag der klagenden Partei die Streitigkeit entscheiden (vgl. ZPO 212)
- Säumnis beider Parteien
- Sind beide Parteien säumig, wird das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben (vgl. ZPO 206 Abs. 3)
- Kognitionspflicht der Schlichtungsbehörde
- Disziplinarische Möglichkeiten beim Verstoss gegen die Teilnahmepflicht
- Disziplinarrecht der Schlichtungsbehörde
- Unabhängig von den prozessualen Säumnisfolgen nach ZPO 206 kann der Verstoss gegen die grundsätzliche Teilnahmepflicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts disziplinarische Folgen zeitigen:
- zB Bestrafung mit einer Ordnungsbusse nach ZPO 128
- Unabhängig von den prozessualen Säumnisfolgen nach ZPO 206 kann der Verstoss gegen die grundsätzliche Teilnahmepflicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts disziplinarische Folgen zeitigen:
- Verletzung der Schlichtungsverhandlungsziele
- Mit einer Sanktion kann verhindert werden, dass der Beklagte durch sein Nichterscheinen an der Schlichtungsverhandlung den Willen des Gesetzgebers, dass ein Schlichtungsversuch stattzufinden hat, sanktionslos vereiteln kann
- Schranken: Rechtsmissbrauch durch den Kläger
- U.E. findet die Teilnahmepflicht des Beklagten da ihre Grenzen, wo der Kläger rechtsmissbräuchlich zur Schlichtungsverhandlung laden lässt, obwohl die Prozessvoraussetzungen nicht gegeben sind, wie bei fehlender Aktiv- und Passivlegitimation
- zB Ladung von Miterben zur Schlichtungsverhandlung mittels Erbteilungsklage trotz laufendem öffentlichem Inventar, um später aus der Verhandlungsteilnahme eine einlassende Nachlasshandlung geltend machen zu können
- U.E. findet die Teilnahmepflicht des Beklagten da ihre Grenzen, wo der Kläger rechtsmissbräuchlich zur Schlichtungsverhandlung laden lässt, obwohl die Prozessvoraussetzungen nicht gegeben sind, wie bei fehlender Aktiv- und Passivlegitimation
- Sanktion
- Eine disziplinarische Ahndung mit Ordnungsbusse setzt voraus:
- Nichterscheinen zur Schlichtungsverhandlung
- Störung des Geschäftsgangs gemäss ZPO 128 Abs. 1
- Bös- oder mutwillige Prozessführung gemäss ZPO 128 Abs. 3
- Vgl. dazu
- BGE 141 III 265, Erw. 5.1
- BGer 4A_500/2016 vom 09.12.2016 Erw. 2 und Erw. 3.1.
- Eine disziplinarische Ahndung mit Ordnungsbusse setzt voraus:
- Disziplinarrecht der Schlichtungsbehörde
Hinweis: Säumnis erst bei effektivem Nichterscheinen des Beklagten zur Verhandlung
- Nach ZPO 147 Abs. 1 ist eine Partei nicht schon säumig, wenn sie erklärt, sie werde an der Schlichtungsverhandlung nicht teilnehmen, sondern erst dann, wenn sie effektiv zum Termin nicht erscheint
- Aus diesem Grund kann vor der Schlichtungsverhandlung nicht endgültig davon ausgegangen werden, dass der Beklagte nicht erscheint und die Einigungsverhandlung nicht durchgeführt werden kann.
Weiterführende Materialien
- Botschaft, a.a.O., S. 7331
- Botschaft, a.a.O., S. 7242 f.
Literatur
- SCHRANK CLAUDE, Das Schlichtungsverfahren nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 2015, Rz. 469
- GROLIMUND PASCAL / BACHOFNER EVA, Die Klagebewilligung als Prozessvoraussetzung – Zum Obligatorium des Schlichtungsverfahrens und zum persönlichen Erscheinen an der Schlichtungsverhandlung, in: Fankhauser et al. [Hrsg.], Das Zivilrecht und seine Durchsetzung, Festschrift für Thomas Sutter-Somm, 2016, S. 137 ff., S. 151
- GASSER DOMINIK / MÜLLER RAHEL / PIETSCH-KOJAN TAMARA
- SCHMID MARTIN, Praktische Fragen zum Schlichtungsverfahren, ZZZ 27 [2011], S. 182 ff., S. 187, Ein Jahr Schweizerische ZPO – ein Erfahrungsbericht, Anwaltsrevue 1/2012, S. 8 ff., S. 9
Judikatur
- BGer 4A_416/2019 vom 05.02.2020 (Verhandlungsteilnahmeobliegenheit des Klägers trotz Beklagten-Teilnahmeabsage; Einwand des Beklagten vor Gericht kein Rechtsmissbrauch)
- BGer 4A_500/2016 vom 09.12.2016
- BGE 141 III 265
- BGE 141 III 159
- BGE 140 III 70
- BGer 4C_1/2013 vom 25.06.2013