Liegt es im Interesse beider Parteien, Zeit für eine gütliche bzw. ausserprozessuale Beilegung ihres Konfliktes zu finden und soll der Gläubiger weder klagen noch betreiben müssen, können sie auch einen Verjährungsverzicht (auch: Verjährungseinredeverzicht) vereinbaren:
Definition
Gegenstand
- Verjährungseinredeverzicht (auch: Verjährungsverzicht) = Einseitige Erklärung des Schuldners, für eine bestimmte Dauer auf die Verjährungseinrede zu verzichten oder Vereinbarung der Parteien, dass sie für eine vereinbarte Dauer auf die Einrede der Verjährung verzichten
Handlung
- Verjährungseinredeverzichtserklärung
- Muster „Verjährungseinredeverzichtserklärung“
Art. 141 OR
VII. Verzicht auf die Verjährungseinrede
1 Der Schuldner kann ab Beginn der Verjährung jeweils für höchstens zehn Jahre auf die Erhebung der Verjährungseinrede verzichten.
1bis Der Verzicht muss in schriftlicher Form erfolgen. In allgemeinen Geschäftsbedingungen kann lediglich der Verwender auf die Erhebung der Verjährungseinrede verzichten.
2 Der Verzicht eines Solidarschuldners kann den übrigen Solidarschuldnern nicht entgegengehalten werden.
3 Dasselbe gilt unter mehreren Schuldnern einer unteilbaren Leistung und für den Bürgen beim Verzicht des Hauptschuldners.
4 Der Verzicht durch den Schuldner kann dem Versicherer entgegengehalten werden und umgekehrt, sofern ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Versicherer besteht.
Grundlage
Zweck
- Verjährungsunterbrechung
- Verhinderung der Verjährungseinrede während einer bestimmten Dauer
Einschränkungen
Kein Verjährungsverzicht vor Vertragsabschluss
- Verjährungsverzicht ist erst ab Beginn der Verjährung zulässig (OR 141 Abs. 1)
- Zum alten Recht:
- Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist der Verjährungsverzicht im Zeitpunkte des Vertragsabschlusses unzulässig (vgl. BGE 132 III 226, Erw. 3.3.7 = Pra 2006 Nr. 146 S. 999 ff.)
- Nach Abschluss des Vertrages kann der Schuldner bezüglich aller noch laufenden Verjährungsfristen darauf verzichten, sich auf die Verjährung zu berufen
- Der Verjährungsverzicht ist bezüglich aller Fristen sogar nach Ablauf der Verjährungsfrist noch möglich
Keine mehr als 10-jährigen Verjährungsverzichte
Grundsatz
- Verzicht auf die Verjährungseinrede für maximal 10 Jahre (OR 141 Abs. 1) pro Verjährungseinredeverzichtserklärung resp. Vereinbarung
- Zum alten Recht:
- Keine Überschreitung der ordentlichen Verjährungsfrist gemäss OR 127 von 10 Jahren, und zwar unabhängig von der ursprünglichen Verjährungsfrist
- hiezu BGE 132 III 226, Erw. 3.3.8 = Pra 2006 Nr. 146 S. 999 ff.
Ausnahme
- In der praktischen Anwendung der Verjährungsunterbrechungen (zB Kette der Verjährungsverzichtserklärungen) kann und darf die 10-Jahresfrist überschritten werden
Form
- Verjährungseinredeverzicht ist nur schriftlich zulässig (OR 141 Abs. 1bis)
- In AGB kann nur der Verwender auf die Verjährungseinrede verzichten (OR 141 Abs. 1bis)
- Unter altem Recht waren Verjährungsverzichte formfrei u. konkludent möglich: Vgl. BGE 4A_495/2011 und BGE 4C.421/2005
Auslegung der Verjährungseinredeverzichte
- Auslegung nach dem Vertrauensprinzip (vgl. BGE 4A_495/2011, Erw. 2.3.1
Wirkung des Verjährungseinredeverzichts
Verjährungsverzicht während laufender Verjährungsfrist
- Kein Neubeginn der Verjährungsfrist, sondern Verlängerung der Verjährungsfrist um die Dauer der vereinbarten Fristverlängerung
- Judikatur
- BGE 4A_495/2011, Erw. 2.3.1
- BGE 4C.421/2005, Erw. 4.1
- Judikatur
Verjährungsverzicht nach Verjährungseintritt
- Wiedereintritt der gerichtlichen Durchsetzbarkeit, auf die im Verjährungseinredeverzicht vereinbarte Dauer
- Ohne Verzichtsdauerangabe
- Gesetzliche Frist
- Ohne Verzichtsdauerangabe
Verjährungseinredeverzicht und Ruhen oder Unterbrechung der Verjährung
Während der Dauer des Einredeverzichts können eintreten:
- Hinderungs- oder Stillstandsgründe
- Vgl. hiezu auch Ruhen der Verjährung
- Unterbrechungshandlungen
- Vgl. hiezu auch Unterbrechung der Verjährung
- Judikatur
Verjährungseinredeverzicht im Prozess
Einredeobliegenheit des Schuldners
- Der Schuldner kann selber bestimmen, ob er nach Verjährungseintritt die Verjährungseinrede im Prozess erheben will oder nicht
- Erhebt der Schuldner die Verjährungseinrede nicht, darf das Gericht die Verjährung nicht beachten (vgl. OR 142)
- Judikatur
Weitere Detailinformationen
Literatur
- FURRER ANDREAS / MÜLLER-CHEN MARKUS, Obligationenrecht – Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Zürich 2012, 21/108 – 110, S. 608 f.
- KESSLER FRANZ J., Der Verjährungsverzicht im Schweizerischen Privatrecht, Zürich 2000, 197 S.
- NIKLAUS, Prescription extinctive, RN 1195, S. 191 f.
- GASS ROLAND, Verjährungsverzicht: Wie weiter?, in: ANWALTSREVUE 2/2007, S. 71
Weiterführende Informationen
Rat zur Einreichung des Betreibungsbegehrens unter gleichzeitiger Beilage des Rückzugsbegehrens
- Anstelle eines Verjährungseinredeverzichts empfiehlt sich eine Betreibung, ev. unter gleichzeitigem Rückzug der Betreibung
- Vorteile
- Keine dogmatischen Probleme zur Frage von Verjährungsfristverlängerung oder Fristneubeginn
- Viele Schuldner wollen in der Verjährungseinredeverzichtserklärung keine Quantitative festlegen, obwohl der Gläubiger für die Verjährungsunterbrechung durch Klage oder Betreibung die „Verjährungsunterbrechungssumme“ bestimmen muss
- Keine Gläubigerabhängigkeit in Bezug auf Abgabe und Zustellung des Verjährungsverzichts „in letzter Minute vor Ablauf der Verjährungsfrist“ usw.
- Nachteile
- Kosten, falls ein reibungsloser Verjährungsverzicht zu erwarten wäre
- Sobald das Wording der Verjährungsverzichtserklärung „verhandelt“ werden muss, dürften Klage (mit Rückzug unter Vorbehalt der Wiedereinbringung) oder Betreibung günstiger sein
- Vorteile
- Vgl. hiezu DÄPPEN ROBERT K., Basler Kommentar, N 6 zu OR 135