Befindet sich der Schuldner bei zweiseitigen Verträgen in Verzug, eröffnen sich dem Gläubiger die drei Wahlrechte nach OR 107 – 109, damit dieser zu seinem Recht kommt. Zuerst muss der Gläubiger dem Schuldner aber in der Regel eine letzte angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung setzen.
Ansetzung einer Nachfrist
Grundsatz
- Der Gläubiger muss dem Schuldner eine angemessene Nachfrist setzen (vgl. OR 107 Abs. 1)
- Angemessenheit
- Angemessen bedeutet, dass der Schuldner in der angesetzten Nachfrist tatsächlich leisten kann, gleichzeitig aber auch die Interessen des Gläubigers berücksichtigt werden
- Form
- formfrei
- Schriftform empfehlenswert
- Nachfristansetzungszeitpunkt
- Die Nachfrist gemäss OR 107 Abs. 1 kann mit oder nach der Mahnung erfolgen
- Angemessenheit
Keine Nachfrist
- Gemäss OR 108 verlangen folgende Situationen keine Nachfrist:
- wenn aus dem Verhalten des Schuldners hervorgeht, dass sie sich als unnütz erweisen würde
- wenn infolge Verzuges des Schuldners die Leistung für den Gläubiger nutzlos geworden ist
- wenn sich aus dem Vertrage die Absicht der Parteien ergibt, dass die Leistung genau zu einer bestimmten oder bis zu einer bestimmten Zeit erfolgen soll
- Weitere wichtige Ausnahmen bei der Ansetzung einer Nachfrist:
- Nach OR 190
- Im kaufmännischen Verkehr wird vermutet, dass der Käufer auf die Lieferung verzichte und Schadenersatz wegen Nichterfüllung beanspruche
- Zieht der Käufer vor, die Lieferung zu verlangen, so hat er es dem Verkäufer nach Ablauf des Termins unverzüglich anzuzeigen
- Nach OR 214
- Rücktritt vom Vertrag ohne Fristenansetzung, wenn Käufer den Kaufpreis im Voraus zu bezahlen hat und mit dieser Zahlung in Verzug ist
- Setzt unverzügliche Meldung des Verkäufers voraus
- Nach OR 190
1. Wahlrecht: Festhalten oder Leistungsverzicht
Gläubiger kann an der Leistung festhalten und Erfüllung verlangen
- Grundlage
- OR 107 Abs. 2
- Wirkung
- Gläubiger schuldet zusätzlich Verspätungsschaden und Verzugszinse (vgl. OR 103 Abs. 1)
- Gläubiger kann Schuldner neue Nachfrist setzen und erhält dann wieder das 1. Wahlrecht
- Dieser Ablauf kann beliebig wiederholt werden
Gläubiger kann auf Leistung verzichten
- Grundlage
- OR 107 Abs. 2
- Voraussetzung
- Unverzügliche Mitteilung des Leistungsverzichts
- Wirkung
- Schuldner darf nicht mehr leisten
- Gläubiger kann Erfüllung nicht mehr beanspruchen
- Es folgt 2. Wahlrecht:
- Rücktritt oder Festhalten am Vertrag
- Muss dem Schuldner mit der unverzüglichen Mitteilung erklärt werden
- Rücktritt oder Festhalten am Vertrag
2. Wahlrecht: Rücktritt oder Festhalten am Vertrag
Der Gläubiger kann vom Vertrag zurücktreten und Schadenersatz geltend machen
- Grundlage
- OR 107 Abs. 2
- Wirkung
- Rücktritt vom Vertrag
- Noch nicht erbrachte Leistungen können verweigert werden
- Es entstehen vertragliche Rückforderungsansprüche gegen den Schuldner für bereits erbrachte Leistungen (vgl. 109 Abs. 1
- Schadenersatz
- Es kann Schadenersatz in Höhe des negatives Vertragsinteresse gefordert werden (vgl OR 109 Abs. 2)
- Der Käufer ist wirtschaftlich so zu stellen, als wäre der Vertrag nie zustande gekommen
- Ersatz für die entstandenen Kosten
- Ersatz des entgangenen Gewinnes
- Der Käufer ist wirtschaftlich so zu stellen, als wäre der Vertrag nie zustande gekommen
- Es kann Schadenersatz in Höhe des negatives Vertragsinteresse gefordert werden (vgl OR 109 Abs. 2)
- Rücktritt vom Vertrag
Gläubiger kann an Vertrag festhalten
- Grundlage
- OR 107 Abs. 2
- Wirkung
- Leistungspflicht des Gläubigers
- Gläubiger muss seine vertragliche Leistung weiterhin erbringen
- Gemäss Leistungs- oder Differenztheorie (vgl. Wahlrecht 3)
- Leistungspflicht des Schuldners
- Leistungspflicht des Schuldners wird zur Schadenersatzpflicht (positives Vertragsinteresse)
- Der Verkäufer ist wirtschaftlich so zu stellen, wie wenn der Vertrag richtig erfüllt worden wäre
- Insbesondere Preisdifferenz für allfälligen Deckungskauf
- Der Verkäufer ist wirtschaftlich so zu stellen, wie wenn der Vertrag richtig erfüllt worden wäre
- Leistungspflicht des Schuldners wird zur Schadenersatzpflicht (positives Vertragsinteresse)
- Gläubiger muss seine vertragliche Leistung weiterhin erbringen
- Leistungspflicht des Gläubigers
3. Wahlrecht: Austausch- oder Differenztheorie
- Grundsatz
- Hält der Gläubiger im 2. Wahlrecht am Vertrag fest, muss er die eigene Leistung noch erbringen. Der Gläubiger hat die Wahl zwischen Austausch- oder Differenztheorie (BGE 123 III 16 4b)
- Austauschtheorie
- Gläubiger leistet in der vertraglich vereinbarten Form und erhält dafür den Schadenersatz des Schuldners
- Differenztheorie
- Wirkung
- Wert der Leistungspflicht des Gläubigers (umgewandelt in Geld) wird der Schadenersatzpflicht des Schuldner gegenübergestellt
- Berechnung der Differenz
- Gläubiger bestimmt, wie er den Wert seiner Leistungspflicht und somit auch die Differenz berechnet
- Vermutung der Differenztheorie
- OR 215 Differenztheorie im kaufmännischen Verkehr vermutet
- Wirkung
Gesetzestexte
Art. 107 OR B. Verzug des Schuldners / II. Wirkung / 4. Rücktritt und Schadenersatz / a. Unter Fristansetzung
4. Rücktritt und Schadenersatz
a. Unter Fristansetzung
1 Wenn sich ein Schuldner bei zweiseitigen Verträgen im Verzuge befindet, so ist der Gläubiger berechtigt, ihm eine angemessene Frist zur nachträglichen Erfüllung anzusetzen oder durch die zuständige Behörde ansetzen zu lassen.
2 Wird auch bis zum Ablaufe dieser Frist nicht erfüllt, so kann der Gläubiger immer noch auf Erfüllung nebst Schadenersatz wegen Verspätung klagen, statt dessen aber auch, wenn er es unverzüglich erklärt, auf die nachträgliche Leistung verzichten und entweder Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen oder vom Vertrage zurücktreten.
Art. 108 OR B. Verzug des Schuldners / II. Wirkung / 4. Rücktritt und Schadenersatz / b. Ohne Fristansetzung
b. Ohne Fristansetzung
Die Ansetzung einer Frist zur nachträglichen Erfüllung ist nicht erforderlich:
- wenn aus dem Verhalten des Schuldners hervorgeht, dass sie sich als unnütz erweisen würde;
- wenn infolge Verzuges des Schuldners die Leistung für den Gläubiger nutzlos geworden ist;
- wenn sich aus dem Vertrage die Absicht der Parteien ergibt, dass die Leistung genau zu einer bestimmten oder bis zu einer bestimmten Zeit erfolgen soll.
Art. 109 OR B. Verzug des Schuldners / II. Wirkung / 4. Rücktritt und Schadenersatz / c. Wirkung des Rücktritts
c. Wirkung des Rücktritts
1 Wer vom Vertrage zurücktritt, kann die versprochene Gegenleistung verweigern und das Geleistete zurückfordern.
2 Überdies hat er Anspruch auf Ersatz des aus dem Dahinfallen des Vertrages erwachsenen Schadens, sofern der Schuldner nicht nachweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle.
Weiterführende Literatur
- Koller Alfred, Gläubigerrechte im Falle eines Leistungsverzichts nach Art. 107 Abs. 2 OR, Bemerkungen zu BGE 123 III 16 ff., ZSR 116/1997 I, S. 495 ff.
- Furrer Daniel / Müller-Chen Markus, Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Schulthess (Zürich), Zürich 2012, S. 564 ff.
Judikatur
- Verzicht auf Nachfrist gemäss OR 108
- BGE 97 II 58 6
- BGE 94 II 26 3.
- BGE 96 II 47 2
- Zum Rücktritt vom Vertrag
- Zur Austausch- oder Differenztheorie
- BGE 123 III 16 E. 4b