Einleitung
Nicht immer führt die Vertragsauslegung zum Ziel und der Beantwortung offener Fragen. Ursachen liegen u.a. darin, dass die Verträge lückenhaft sind, weil sich die Parteien über Nebenpflichten uneinig sind oder, dass sich die Verhältnisse seit Vertragsschluss verändert haben. Die Verträge sind in diesen Fällen zu ergänzen oder anzupassen:
Risikozuordnung bei veränderten Verhältnissen
- Keine allgemeinen Prinzipien
- Für die Risiko-Zuordnung im Falle veränderter Verhältnisse in ein- oder zweiseitigen Verträgen lassen sich keine allgemeingültigen Leitsätze aufstellen
- Primäre Heranziehung der von den Parteien vertraglich gesetzten Risikoverteilung
- Methodenanwendung mit Ergebnis
- Die im konkreten Einzelfall massgebende Risikoordnung sollte aufgrund der nachgenannte Methode festgestellt werden:
- Zur Bestimmung der vertraglichen Risikobereiche. die das Mass der von jeder Partei mit dem Vertragsabschluss übernommenen Aufwandserhöhungs- und Zweckstörungsrisiken angeben, ist primär auf die von den Parteien privatautonom gesetzte Risikoverteilung des Vertrages abzustellen
- Die im konkreten Einzelfall massgebende Risikoordnung sollte aufgrund der nachgenannte Methode festgestellt werden:
- Methodenanwendung ohne Ergebnis
- Führt die erläuternde und ergänzende Vertragsauslegung nicht weiter, ist die gesetzliche Risikoverteilung heranzuziehen
- Siehe nachfolgende Ausführungen
- Methodenanwendung mit Ergebnis
- Sekundäre Heranziehung der gesetzlichen Risikoverteilung
- Gibt die erläuternde und ergänzende Auslegung nichts, nicht genug oder zu wenig Genaues her, um die Risikoverteilung im Einzelfall zu entscheiden, ist die gesetzliche Risikoverteilung heranzuziehen
- Ist die Gesetzesauslegung (zB qualifiziertes Schweigen) bzw. die gesetzliche Risikoverteilung (zB Anpassungsregel) nicht hilfreich, bleibt nur der Richterentscheid (siehe nachfolgend)
- Tertiäre Risikoverteilung durch den Richter
- Der Richter muss das verwirklichte Risiko durch Ausfüllen der festgestellten Gesetzeslücke (ZGB 1 Abs. 2) verteilen, wenn dem Gesetz keine Risikoregelung entnommen werden kann
- Ausserhalb der vertraglichen Risikosphäre entstandene Risiken
- In der Zuweisung ausserhalb der vertraglichen Risikosphäre der Vertragsparteien angefallenen und deshalb von diesem nicht oder nicht allein zu vertretenden Risiken besteht der eigentliche Funktionsbereich der sog. clausula rebus sic stantibus
- Risikoverteilung nach clausula rebus sic stantibus
- Die Risikoverteilung unter Heranziehung der clausula rebus sic stantibus wird als Akt der Gesetzesergänzung eingestuft.
Risikoverteilung unter die Parteien
- Risikozuordnung als Auslegungs- und Ergänzungsschwierigkeit
- Die Risikozuordnung bei veränderten Verhältnissen beinhaltet beinahe ausschliesslich eine Auslegung und Ergänzung der Parteivereinbarung
- Die Auslegung und Ergänzung der Parteivereinbarung hat unter Beizug des lnterpretationsmassstabes von Treu und Glauben (ZGB 2 Abs. 1) zu erfolgen
- Treu und Glauben als Hilfsmittel
- Mehr als die Funktion eines Hilfsmittels zur Rechtsfindung kommt dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben nicht zu
- Richterlicher Eingriff?
- Eine Risikozuordnung durch korrigierenden Eingriff des Richters in die ausgelegte und – auch unter Beizug der clausula rebus sic stantibus – ergänzte Risikoregelung des Vertrages oder des Gesetzes, unter Beizug des regeldurchbrechenden Korrekturprinzips des Rechtsmissbrauchsverbots (ZGB 2 Abs. 2), wird wohl nur ausnahmsweise erfolgen
- Anwendung der Clausula rebus sic stantibus nur bei Sozialkatastrophen
- Siehe die beiden Boxen unten
Vertragsergänzungen
Ausgangslage
- Lückenhafter, aber gültiger Vertrag
Vertragslücke
- Regelbedürftige Nebenpunkte wurden von den Parteien nicht oder nicht vollständig geklärt
- Haben sich die Parteien über einen objektiv wesentlichen Vertragspunkt nicht geeinigt, liegt Dissens und somit kein gültiger Vertrag vor
Mittel der Vertragsergänzung
- Einigung der Parteien
- Dispositives Gesetzesrecht
- Annahme, dass dispositives Gesetzesrecht eine ausgewogenen Interessenswahrung beider Parteien beinhaltet
- BGE 115 II 264 E. 5a.
- Annahme, dass dispositives Gesetzesrecht eine ausgewogenen Interessenswahrung beider Parteien beinhaltet
- Lückenfüllung durch das Gericht nach dem hypothetischen Parteiwillen
Entscheidungszwang
- Das Gericht ist zur Vertragsergänzung verpflichtet
Vertragsanpassung (Clausula rebus sic stantibus)
Begriff
- Clausula rebus sic stantibus = Bestimmung der gleichbleibenden Umstände
Grundlage
- Die Rechtsgrundlage der clausula rebus sic stantibus ist unklar
- Offengelassen in BGE 127 III 300 E. 5b
Rechtsnatur
Die Clausula rebus sic stantibus ist eine Irrtumsregel.
Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Vertragsanpassung
- Veränderung der Verhältnisse und Umstände nach Vertragsabschluss
- Bei Veränderungen vor oder während des Vertragsschlusses
- Grundlagenirrtum möglich
- Bei Veränderungen vor oder während des Vertragsschlusses
- Vertrag ist weder Lückenhaft noch besteht ein Auslegungsstreit
- Gravierende Äquivalenzstörung
- Krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung
- BGer 4C.175/2001 v. 3.4.2002 E. 3c
- Fehlende Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit
- Kein widersprüchliches Parteiverhalten
- Anwendungsfälle
- Veränderung der Verhältnisse durch die Parteien bewirkt
- Parteien haben den Vertrag trotz veränderten Verhältnissen vorbehaltlos erfüllt
- Anwendungsfälle
Wirkungen
Gemäss Rechtsprechung ist durch die richterliche Vertragsanpassung infolge der clausula rebus sic stantibus einzig die entstandene massive Unzumutbarkeit zu beseitigen, nicht aber eine volle Ausgewogenheit herzustellen (vgl. BGE 59 II 372).
Anwendung der Clausula rebus sic stantibus nur bei Sozialkatastrophen
- Allgemeines
- Die clausula rebus sic stantibus kann grundsätzlich nur bei Sozialkatastrophen zur Anwendung gelangen
- Positive Anwendungskriterien
- Eintritt einer tiefgreifenden und einschneidenden Veränderung der Sozialexistenz
- Massive Betroffenheit des Äquivalenzverhältnisses zwischen den Leistungen des zu beurteilenden Vertrages
- Blosse Zweckstörungen fallen aber nicht in den Funktionsbereich der clausula rebus sie stantibus
- Negative Anwendungskriterien
- Bei Vorliegen nur eines nachgenannten negativen Anwendungskriteriums kommt eine Risikozuordnung nach Massgabe der clausula rebus sic stantibus nicht in Betracht
- Voraussehbarkeit der eingetretenen Verhältnisänderung
- spekulativer Vertrag
- Verschulden einer Partei an der Verhältnisänderung
- Verzug einer Partei
- bereits erfüllter Vertrag
- Bei Vorliegen nur eines nachgenannten negativen Anwendungskriteriums kommt eine Risikozuordnung nach Massgabe der clausula rebus sic stantibus nicht in Betracht
- Wirkungen der clausula rebus sic stantibus
- Die Anwendung der clausula rebus sic stantibus kann als Rechtsfolge auslösen
- Aufhebung des Vertrages
- Änderung des Vertragsinhaltes
- Änderung der Vertragsdauer
- Bei Vorliegen eines Rechtsmissbrauches ist nur die Vertragsauflösung zulässig.
- Die Anwendung der clausula rebus sic stantibus kann als Rechtsfolge auslösen
Kern-Voraussetzungen der Clausula rebus sic stantibus
Die Berufung auf die clausula setzt dreierlei voraus (vgl. BGE 127 III 300, Erw. 5b):
- 1) Die Partei, welche sich auf die clausula rebus sic stantibus beruft, muss sich in einem Irrtum über die Entwicklung der Wirklichkeit befunden haben;
- Ausnahme: Wer bewusst spekulierte und sich dabei verspekulierte, befand sich nicht in einem Irrtum.
- 2) Der Irrtum muss subjektiv wesentlich sein, d.h. dass die Partei den Vertrag nicht oder wenigstens anders abgeschlossen hätte, wenn sie die unerwarteten Ereignisse gekannt hätte.
- 3) Der Irrtum muss objektiv wesentlich sein.
- 4) Die Hauptfrage ist, ob die unveränderte Verbindlichkeit des Vertrags eine unangemessene Rechtsfolge zeitigt.
- Der Umstand, welcher zur misslichen Lage führte, darf nicht selbst schuldhaft herbeigeführt worden sein (vgl. Koller Alfred, a.a.O., S. 438 ff.).
Anwendungsdetails der clausula rebus sic stantibus
Die clausula rebus sic stantibus findet erst und nur dann Anwendung, wenn der Rechtsanwendende vorgängig in nachgenannter Reihenfolge folgendes unternommen hat:
- Ermittlung von Inhalt, Umfang und Grenzen der vertraglichen Risikosphären der Parteien nach objektiven Kriterien
- Feststellung, dass die eingetretene Verhältnisänderung weder dem einen noch dem anderen Risikobereich zuzuordnen ist
Entsprechend ist die clausula rebus sic stantibus gegenüber der vertraglichen und gesetzlichen Risikoordnung subsidiär.
Formvorschriften
- Gemäss BGE 127 III 118 E. 4b/bb sind Formvorschriften nach OR 11 und 12 nur bei Vertragsabschlüssen und Vertragsänderungen zu beachten
- Bei der Auslegung, Ergänzung oder Anpassung von Verträgen durch das Gericht finden diese Regeln grundsätzlich keine Anwendung
Literatur
- Bischoff Jacques, Vertragsrisiko und clausula rebus sic stantibus. Risikozuordnung in Verträgen bei veränderten Verhältnissen (Diss. Zürich), Zürich 1983
- Burkhardt Martin, Vertragsanpassung bei veränderten Umständen in der Praxis des schweizerischen Privatrechts: Vertragsgestaltung, Schiedsgerichtspraxis und Praxis des Bundesgerichts, Bern 1997
- Enz Benjamin V., Risikozuordnung in Verträgen und die COVID-19 Situation: Teil 1 Anwendungsbereich der clausula rebus sic stantibus, der Unmöglichkeit nach Art. 119 OR und der Kündigung aus wichtigem Grund
- Enz Benjamin V. / Mor Sarah, Risikozuordnung in Verträgen und die COVID-19-Situation: Teil 2 Problemstellungen der COVID-19-Situation im Werkvertragsrecht
- Kälin Oliver, Unmöglichkeit der Leistung nach Art. 119 OR und clausula rebus sic stantibus, recht 2004, S. 246 ff.
- Koller Alfred, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Auflage, Bern 2009, S. 438 ff.
- Leu Daniel, Vertragstreue in Zeiten des Wandels : die clausula rebus sic stantibus und das Kriterium der Vorhersehbarkeit / Daniel Leu. – 2007 In: Vertrauen – Vertrag – Verantwortung : Festschrift für Hans Caspar von der Crone zum 50. Geburtstag . -Zürich, 2007. – S. 107-125
- Sutter-Somm Thomas (Hrsg.), Impulse zur praxisorientierten Rechtswissenschaft # 35: Enz Benjamin V., Clausula rebus sic stantibus – Insbesondere im Spiegel der Rechtsprechung, Zürich 2018
Judikatur
- Zur Vertragsergänzung
- BGE 115 II 264 5a.
- Zur Frage des Anpassungsanspruches bei veränderten Verhältnissen
- Zur gravierenden Äquivalenzstörung
- BGer 4c.175/2001 3.4.2002 E. 3c
- Zur Frage der Formvorschriften bei Vertragsergänzungen
- BGE 127 III 118 4b/bb
Weiterführende Informationen
- Vertragsergänzung