Willensmängel können von der Person, die sich im Irrtum befindet oder bedroht wird, mit der Anfechtungserklärung geltend gemacht werden. Die Geltendmachung eines Irrtums schliesst die Geltendmachung von absichtlicher Täuschung nicht aus (BGE 106 II 346 E. 3)
Anfechtungserklärung
Begriff
- Anfechtungserklärung = Erklärung der irrenden oder bedrohten Person, Willensmängel geltend machen zu wollen
Grundlage
- OR 31
Rechtsnatur der Erklärung
- Bei der Anfechtungserklärung handelt es sich um eine Gestaltungserklärung
Form
- Die Anfechtungserklärung muss nur gegenüber der Gegenpartei erfolgen und ist formfrei
- auch bei formbedürftigen Rechtsgeschäften
- kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen
Ort für die Anfechtung
- Anfechtung muss nicht gerichtlich geltend gemacht werden
- Gerichtsurteil bei Anfechtung des Willensmangels hat nur deklaratorische Wirkung
Inhalt
- Der Willensmangel muss nicht genannt werden
- Die Gegenpartei muss aber erkennen, dass der Vertrag aufgrund eines Willensmangel angefochten wird
Wirkung
- Aufhebung des Rechtsverhältnisses ohne Zustimmung der Gegenpartei möglich
- Anfechtung ist bedingungsfeindlich und unwiderruflich
- Ausnahmen vom Grundsatz der Unwiderruflichkeit der Anfechtungserklärung
- BGE 128 III 70 E. 2
- Ausnahmen vom Grundsatz der Unwiderruflichkeit der Anfechtungserklärung
Frist der Anfechtung
Frist
- Die Anfechtungserklärung muss gemäss OR 31 Abs. 1 innerhalb eines Jahres erfolgen
Fristbeginn
- Bei Irrtums und Täuschung
- mit der Entdeckung
- Bei Furchterregung (Drohung)
- mit deren Beseitigung
- Relative Frist
- Es handelt sich bei der in OR 31 Abs. 1 genannten Frist um eine relative Frist
- Absolute Frist
- Eine absolute Ausschlussfrist kennt OR 31 nicht
- Anfechtung eines Vertrages – unter Beachtung der relativen Frist (1 Jahr) – auch nach 10 Jahren möglich
- Eine absolute Ausschlussfrist kennt OR 31 nicht
Fristablauf
- Nach Ablauf der einjährigen Frist gilt der Vertrag als genehmigt
Ausschluss der Anfechtung durch Genehmigung
Voraussetzung für die Genehmigung
- Nach Kenntnis des Willensmangels
- Eine Genehmigung kann erst ab sicherer Kenntnis des Willensmangels erfolgen
- Nach Berufung auf einen Willensmangel
- Genehmigung kann auch nach der Berufung auf einen Willensmangel erfolgen, vorausgesetzt, die Gegenpartei genehmigt die Aufrechterhaltung des Vertrages
Form der Genehmigung
- Die Genehmigung kann erfolgen durch ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten
- Genehmigung bei konkludenten Genehmigung darf nicht leichthin angenommen werden
- BGE 108 II 102 E. 2a
- Genehmigung bei konkludenten Genehmigung darf nicht leichthin angenommen werden
(Reissnagel) Die Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen nach OR 197 ff. oder das Setzen einer Nachfrist nach OR 107 Abs. 1 wird von der Rechtsprechung als konkludente Genehmigung angesehen, setzen doch beide Fälle einen gültigen Vertrag voraus, womit eine nachträgliche Anfechtung ausgeschlossen wird
Anfechtung wider Treu und Glauben
Allgemein
- Die Anfechtung eines Vertrages darf kein Verstoss gegen Treu und Glauben darstellen
- Insbesondere muss der Irrende den Vertrag gelten lassen, wie er ihn verstanden hat, sobald der andere sich hierzu bereit erklärt
Grundlage
- Bei Irrtum
- OR 25 Abs. 1 und 2
- Bei der Täuschung und Drohung
- ZGB 2 Abs. 2
Fahrlässiger Irrtum
- Fahrlässiger Irrtum stellt kein treuwidriges Verhalten dar
- Der fahrlässige Irrende wird aber Schadenersatzpflichtig
- BGE 105 II 23 E. 2b
Teilanfechtung
Begriff
- Teilanfechtung = Anfechtung einzelner Teile des Vertrages
Grundlage
- Teilnichtigkeit gemäss OR 20 Abs. 2 kommt bei Willensmängeln analog zur Anwendung
- BGE 116 II 586 E. 2b.aa
- BGE 107 II 419 E. 3a
- BGE 87 II 216 E. 5
Anfechtungsberechtigte
- Bei Täuschung und Drohung steht die Geltendmachung der Teilnichtigkeit nur dem Getäuschten bzw. Bedrohten zu
- BGE 125 III 353 E. 3
Ziel
- Aufrechterhaltung des Vertrages mit modifiziertem Inhalt
Wirkung
- Betrifft der Mangel nur einzelne Teile eines Vertrages, so sind nur diese nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass er ohne den nichtigen Teil überhaupt nicht geschlossen worden wäre
- BGE 107 II 419 E. 3a
- BGE 96 II 101 E. 3a
- Teilnichtigkeit führt faktisch zu einer Minderung gemäss OR 205 Abs. 1
Konkurrenzen
Zur Übervorteilung
- Allgemein
- Ein Vertrag mit Willensmangel kann auch den Tatbestand der Übervorteilung erfüllen
- Konkurrenz
- Es gilt alternative Konkurrenz
- Unterschiedliche Fristen
- Bei Täuschung
- ab Entdeckung der Täuschung (vgl. OR 31)
- Bei Übervorteilung
- ab Vertragsabschluss (vgl. OR 21)
- Bei Täuschung
Zu Rechtsbehelfe des Schweizerischen Obligationenrechts (OR)
- Sachgewährleistung und Grundlagenirrtum
- Konkurrenz
- Es gilt alternativen Konkurrenz
- BGE 127 III 83 E. 1b
- BGE 114 II 131 E. 1a
- Geldendmachung von Sachgewährleistungsansprüchen
- Werden jedoch Ansprüche aus Sachgewährleistung geltend gemacht, gilt der Vertrag im Sinne von OR 31 als genehmigt
- Wirkung der Genehmigung
- Irrtumsanfechtung ist nicht mehr möglich
- BGE 127 III 83 E. 1b
- Irrtumsanfechtung ist nicht mehr möglich
- Es gilt alternativen Konkurrenz
- Rechtsbehelfe des Obligationenrechts und Täuschung bzw. Drohung
- Konkurrenz
- Es gilt alternativen Konkurrenz
- BGer 5P.360/2001 v. 14.12. 2001
- BGE 127 III 83 E. 1b
- Es gilt alternativen Konkurrenz
- Wirkung
- Getäuschter kann Mängelrechte geltend machen
- Getäuschter kann auch vom Vertrag zurücktreten
- Konkurrenz
- Konkurrenz
Literatur
- Furrer Daniel / Müller-Chen Markus, Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Schulthess (Zürich), Zürich 2012, S. 205 ff.
Judikatur
- Zur Anfechtungserklärung
- Zur Absoluten Ausschlussfrist
- Zur Teilanfechtung
- BGE 116 II 586 2b.aa
- BGE 107 II 419 3a
- BGE 87 II 216 E. 5
- Zur Anfechtungsberechtigung
- Zur Konkurrenz
- BGE 127 III 83 1b
- BGE 114 II 131 1a