Das Definitionspaar «typisch“ und „atypisch» beschlägt die einzelne AG als Gegenstand der sozialen Wirklichkeit im Verhältnis zum Gesetz:
Gemeinsamkeiten
- Die atypische AG hat mit der typischen gemein:
- Beide weisen alle gesetzlichen, d.h. notwendigen Begriffsmerkmale der AG auf
Unterschiede
- Allgemein
- Im Unterschied zur typischen AG fehlen der atypischen AG aber einzelne oder übliche Typmerkmale:
- Tatbeständliche Elemente des Lebensverhältnisses «Aktiengesellschaft», die durch zweierlei gekennzeichnet sind:
- Gesetzlich nicht geregelte Elemente, die nicht zum Normtatbestand «Aktiengesellschaft» gehören, folglich auch nicht zum Inhalt der einschlägigen Normen (d.h. weder Geboten noch Verboten)
- Gesetzliche Sonder-Normen des Aktienrechts, die vom Gesetzgeber so gestaltet wurden, dass sie nur für einzelne Gesellschaften passen und anwendbar sind, bei denen diese tatbeständlichen Elemente gerade gegeben sind
- Tatbeständliche Elemente des Lebensverhältnisses «Aktiengesellschaft», die durch zweierlei gekennzeichnet sind:
- Die Annahme einer typischen AG setzt eine Modellvorstellung, ein Leitbild, des Gesetzgebers voraus, während dies bei einer atypischen AG nicht in jeder Hinsicht zutrifft
- In vielen Belangen hat sich der Gesetzgeber gar nicht mit der Atypizitätsmöglichkeit einer AG (zB Zweimann-AG und insbesondere Einmann-AG) befasst
- Im Unterschied zur typischen AG fehlen der atypischen AG aber einzelne oder übliche Typmerkmale:
- Innergesellschaftliche Aspekte
- Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten (VRP)
- Bei der Zweimann-AG dürfte die sog. „Stichentscheid-Regel“ – zur Vermeidung einer Beschluss- und Funktionsunfähigkeit – opportun sein, auch wenn sie dem Sinn und Geist des Aktienrechts widerspricht (aktienrechtliches Mehrheitsprinzip)
- Vermeidung eines Organisationsmangels
- Zweckerreichung
- Ausgangslage
- Atypische AG mit oder ohne Lösungsmechanismus für den Fall von Stimmengleichheit
- Zulässigkeit
- Grundsatz
- Ja, da kein Verstoss gegen zwingendes Aktienrecht
- Schranken
- Rechtsmissbrauch (ZGB 2)
- Erfordernis der schonenden Rechtsausübung (vgl. ZGB 2 Abs. 2)
- Grundsatz
- Grundlage
- Statuten
- Frage, ob der Gleichstand durch vertragliche Zuerkennung eines Stichentscheidrechts überwunden werden darf bzw. kann (ungelöst)
- Einschränkung
- Als unzulässig dürfte sich das „Stichentscheidrecht“ da erweisen, wo es die Stimmkraft von zwei Aktionären dauernd so verteilen soll, dass dem einen das Übergewicht über den andern zukommt
- Lösungsmöglichkeiten
- Schaffung von Stimmrechtsaktien
- Fiduziarische Übertragung je einer Aktienstimme eines jeden Gesellschafters an einen unabhängigen Dritten
- Vgl. CAHANNES MERENS / VON DER CRONE HANS CASPAR, a.a.O., S. 388
- Losentscheid bei Wahlen
- = Alternative zum Stichentscheid
- Vgl. CAHANNES MERENS / VON DER CRONE HANS CASPAR, a.a.O., S. 389
- Bei der Zweimann-AG dürfte die sog. „Stichentscheid-Regel“ – zur Vermeidung einer Beschluss- und Funktionsunfähigkeit – opportun sein, auch wenn sie dem Sinn und Geist des Aktienrechts widerspricht (aktienrechtliches Mehrheitsprinzip)
- Statutarische Ausstandsvorschriften
- Schutz der Mitaktionäre vor dem Interessierten; wobei dieses Schutzbedürfnis bei der Einmann-AG entfällt
- Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten (VRP)
- Aussengesellschaftliche Aspekte
- Allgemein
- Numerus clausus der gesetzlichen Gesellschaftsformen
- Zwingende Normen der Gesellschaftsform
- Zweckwidrige Verwendung der Gesellschaftsform
- Vertretung
- Es gelten die Regeln des allgemeinen Vertretungsrechts, insbesondere zur Vertretungsmacht und zur Vertretungsbefugnis
- Zu berücksichtigen sind dabei Gesellschaftszweck, Kundgabe und – je nach dem – der Vertrauensschutz des Gutgläubigen
- Allgemein
Anwendungsbeispiele atypischer Aktiengesellschaften
- Einmann-AG
- Zweimann-AG
Literatur
- Allgemein
- KOLLER ARNOLD, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, Freiburg 1967, 172 S.
- JÄGGI PETER, Von der atypischen Aktiengesellschaft, in: Peter Gauch/Bernhard Schnyder (Hrsg.), Peter Jäggi, Privatrecht und Staat, Gesammelte Aufsätze, Zürich 1976, 251 ff., 260
- CAHANNES MERENS / VON DER CRONE HANS CASPAR, Der Stichentscheid in der Generalversammlung unter dem Aspekt des Gebots der schonenden Rechtsausübung, in: SZW/RSDA 3/2017, S. 385, FN 32
- RICHARD ULRICH, Atypische Kommanditgesellschaften, Diss. Zürich 1971
- Vermeidung oder Funktionsunfähigkeit einer Zweimann-AG
- PEYER HANS-CONRAD, Die Zweimann-AG, Diss. Zürich 1963, S. 87 ff.
- SCHOCH, Die Zweimann-AG, in: SAG 32 (1959/60) 225 ff.
Judikatur
- BGer 4A_579/2016 vom 28.02.2017
- BGE 99 II 55, Erw. 4.b
- BGE 95 II 566 f.
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